Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Lhasa oder sogar Peking. »Als leitende Offizierin vor Ort leiste ich ihm lediglich Unterstützung.«
»Sie meinen, Ihre Hauptaufgabe ist die Befriedung.«
Sie widersprach nicht. »Es gab ein neues Memo. Wir sollen es ab jetzt Assimilierung nennen. Wir umarmen die einheimische Bevölkerung mit dem offenen Herzen des chinesischen Mutterlandes.« Sie sprach die Worte mit hochgezogenen Augenbrauen. Einen Moment lang glaubte Shan, in ihrer Stimme Sarkasmus mitschwingen zu hören.
»Liangs Lösung wird irgendeinen Politoffizier zweifellos stolz machen«, behauptete Shan. »Er klärt einen Mord auf, indem er eine Granate in eine Menschenmenge wirft.«
»Ich bin mir nicht sicher, dass ich Ihnen folgen kann.«
Shan beobachtete mit dunkler Vorahnung, wie die kräftigen chinesischen Männer in Zivil rund um den Markt Aufstellung nahmen. »Peking erwartet kühne Reaktionen auf Morde. In Tibet ist das immer einfach. Man treibt zwei Dutzend Tibeter zusammen, nimmt einige bei Verhören in die Mangel und presst ihnen irgendwelche Anschuldigungen ab. Sobald man genügend Aussagen gesammelt hat, verhaftet man einen Dissidenten und erklärt den Fall auf einer Pressekonferenz für abgeschlossen, gefolgt von einem Artikel in der Lhasa Times , der vor der anhaltenden Gefahr durch Revisionisten warnt. Das mag in Peking gut klingen, aber es hält keinen Mörder auf. Es wird Ihre Aufgabe hundertmal schwieriger machen, Leutnant.«
Meng runzelte die Stirn. »Die Tatortfotos haben in Peking zu heftigen Wutausbrüchen geführt. Eine chinesische Flagge aus roter Farbe und Blut. Zwei tote Chinesen, deren Stiefelauf irgendeiner Bäuerin liegen. Selbstverständlich steckt ein Dissident dahinter.«
»Sie meinen, Peking will, dass ein Dissident dahintersteckt. Und macht sich dadurch zur Marionette des Mörders. Sie sind für die örtliche Assimilierung zuständig. Von Peking gesandte Sonderbevollmächtigte kommen und gehen. Sie werden danach immer noch hier sein. Sie werden zulassen, dass diese Leute alles hier um Jahre zurückwerfen. Und damit auch Ihre Karriere.«
Sie ließ die Tüte Sonnenblumenkerne sinken. »Ich höre.«
»Die haben es noch nicht durchdacht, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Es wird anfangen wie eine kleine Glocke, die irgendwo in einem langen Tunnel erklingt. Bei einem Fall wie diesem könnte es Wochen dauern, bis jemand auch nur anhält, um hinzuhören. Doch dann wird man sie hören. Und am Ende wird der Klöppel der Glocke sich wie ein Hammer anfühlen, der auf die Köpfe mancher der Beteiligten niedersaust.«
Meng war skeptisch. »Sprechen Sie immer in Rätseln?«
»Die Wahrheit wird zurückkommen und Sie heimsuchen. Ganz gleich, welches Etikett man dem Fall nach außen hin verpasst, Peking wird letztlich begreifen, dass dies kein Akt des politischen Widerstands gewesen sein kann. Es war viel zu brachial, zu unauffällig, zu simpel.«
»Das hier sind einfache Leute.«
»Einfach. Aber nicht einfältig. Wahllos ein paar Aufwiegler zu verhaften, mag sich heute gut anfühlen, doch schlussendlich wird Peking es als Auslöser eines größeren Problems betrachten. In der Partei macht ein neuer Begriff die Runde. Ziviler Ungehorsam mit physischen Manifestationen. Die Art von Problem, die sich nur noch mit einem Bataillon Soldaten lösen lässt. Oberst Tan ist der Leiter dieses Bezirks. Es werden seine Truppen sein, angeführt von ihm persönlich. Kennen Sie ihn?«
»Tan der Schmiedehammer. Er löffelt Patronen zum Frühstück.«
»Wenn er kommt, wird es ihn nicht kümmern, ob Sie Chinesin sind oder eine Uniform tragen. Falls Sie seiner Maschine im Weg stehen, wird er Sie einfach überrollen.«
Meng sah ihn an, als würde sie Shan zum ersten Mal erblicken. »Sie sprechen wie jemand, der sich mit den Gepflogenheiten in Peking gut auskennt.«
»Ich habe fünfundzwanzig Jahre an der Seite derer verbracht, die diese Gepflogenheiten etablieren.«
Diese Neuigkeit schien Meng zu beunruhigen. »Alles, was ich tue, geschieht in Übereinstimmung mit den Vorgaben aus Peking«, versicherte sie eilig.
»Die Vorgaben aus Peking sind absichtlich nur vage formuliert. Damit man der Leiterin eines entlegenen Zuständigkeitsbereiches, die sich darauf beruft, später vorwerfen kann, sie habe die Vorgaben falsch ausgelegt oder sogar missachtet.« Er schaute zu den fernen Bergen. Lokesh war dort oben. Er musste für Lokeshs Sicherheit sorgen – und für die Sicherheit von Jamyangs geheimer Existenz. Er wies auf den Markt.
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