Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Mühe auf. Sie griff sich an die Oberlippe. Aus ihrer Nase tropfte Blut. »Ich bekomme leicht Nasenbluten«, sagte sie. »Sie wissen schon, wegen der Höhe.«
»Sie wurden soeben angegriffen, Leutnant.« Er reichte Meng ihre Mütze. »Eine Offizierin der Öffentlichen Sicherheit wurde angegriffen.«
»Unsinn. Wir … sind zusammengestoßen«, sagte Meng mit schwacher Stimme. »Ich habe nicht aufgepasst.«
Shan schaute die Gasse entlang und hinaus auf den Platz. »Sie haben mich beobachtet. Sie sind mir gefolgt.«
»Ich bemühe mich, von Älteren zu lernen. Wie ich schon sagte, Sie kennen sich mit Pekings Gepflogenheiten gut aus.«
Er starrte sie an. Je mehr er mit Meng zu tun hatte, desto mehr war sie ihm ein Rätsel. Eigentlich hätte sie ihr Funkgerät zücken und eine stadtweite Fahndung anordnen müssen. Wer die Hand gegen einen Offizier der Kriecher erhob, kam für Jahre ins Gefängnis. Shan grübelte über ihre Worte nach. Welche von Pekings Gepflogenheiten machten ihr denn Sorgen?
»Sie wissen, wer das war«, stellte er fest. »Und Sie wissen auch, wer dieser andere Mann ist. Den man als Süden etikettiert hat. Seine Tätowierung sieht wie das Symbol einer Bande aus.«
Meng zog eine Serviette aus der Tasche und hielt sie sich unter die Nase. »Die bezeichnen sich eher als eine Art Geselligkeitsverein. Sie nennen sich die Jadekrähen, eine Gruppe unerwünschter Elemente aus Yunnan. Jemand dort hat beschlossen, sie lieber nach Tibet als hinter Gitter zu verfrachten.«
»Sie wollen sagen, die haben irgendeinen Gerichtsbeamten bestochen.«
Meng tat so, als hätte sie es nicht gehört. »Das gehört zum Prinzip der Pionierstädte. Mische die Bevölkerungsgruppen. Lass nicht zu, dass eine die Überhand gewinnt.«
»Es deutet aber alles darauf hin, dass sie die Stadt bereits übernommen haben, Leutnant. Ihre Stadt.« In der Gasse wurden Schritte laut. Shan drehte sich um. Die tibetischen Polizisten rannten auf sie zu.
Meng schien etwas einwenden zu wollen, sah dann aber ihre blutige Serviette an. »Es ist schon spät. Ich habe noch eine lange Fahrt zur Zentrale vor mir«, sagte sie, wandte sich ab und verschwand um die Ecke des Gebäudes.
Zentrale. Sie meinte die Gebietszentrale der Öffentlichen Sicherheit, dreißig Kilometer nördlich der Grenze des Bezirks Lhadrung. Shan rief sich ins Gedächtnis, dass sie nicht Liang unterstellt war, sondern anderen Offizieren, die die Befriedung als Mengs Hauptaufgabe festgelegt hatten. Er war versucht, ihr zu folgen, aber dann wäre er vollkommen schutzlos gewesen. Außerhalb von Lhadrung war er ein Niemand, ein ehemaliger Strafgefangener, der gegen die Vorschrift verstoßen hatte, den ihm zugewiesenen Bezirk nicht zu verlassen.
Er schaute zurück zum Platz. Die Damespieler waren alle verschwunden.
* * *
Der Aufsichtsbeamte für die Gräben des nördlichen Abschnitts des Bezirks Lhadrung kam viel herum. Shan war für ein Gebiet von etwa zweitausendfünfhundert Quadratkilometern zuständig. Sein erster jährlicher Rechenschaftsbericht für die Bezirksverwaltung hatte zweihundertfünfundzwanzig Abzugskanäle, zwanzig Erddämme und fünfhundertfünfzig Kilometer Entwässerungsgräben aufgeführt. In einem unbeschwerten Moment hatte er mal zu Lokesh gesagt, das sei ein ehrwürdiger Posten, den es schon unter den alten chinesischen Kaisern gegeben habe. Daraufhin hatte der Tibeter ihn eine Woche lang nur noch mit kaiserlichen Ehrentiteln angeredet. In Wahrheit sorgte diese Tätigkeit dafür, dass Shan häufig mit Schlamm bespritzt war. Sie ging auf den schlauen und hinterlistigen Einfall des Bezirkskommandanten Oberst Tan zurück, der es widerwillig als seine Pflicht angesehen hatte, Shan zu beschützen, nachdem dieser ihn vor einer falschen Mordanklage gerettet hatte. Doch Tan wollte Shan möglichst weit weg von sich wissen und ihn so erniedrigen, dass er geneigt sein könnte zu fliehen. Diese Anstellung sowie die Verlegung von Shans Sohn Ko in Shans einstiges Straflager in Lhadrung würden die letzten Gefallen sein, die Shan je von ihm erwarten dürfe, hatte Tan streng gewarnt.
Das Gute an dieser Aufgabe war, dass Shan keinen direkten Vorgesetzten hatte und sich in seinem Zuständigkeitsbereich völlig frei bewegen konnte. Zudem stand ihm ein verbeultes altes Dienstfahrzeug zur Verfügung. Er stützte sich nun auf seine Schaufel und beobachtete die unterhalb gelegenen Klosterruinen. An der Zufahrt zum Tatort gab es noch immer eine mit zwei Mann besetzte
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