Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
verdanken .
Er musterte geistesabwesend die Worte und zwang sich, an die schaurige Szene im Kühlraum des Ladens zurückzudenken. Liangs besonderer Arzt hatte Beis Bein geöffnet und ihmmehrere Zähne gezogen. Die Männer hatten in ihm einen Ausländer vermutet, aber im modernen China waren gepflegte Zähne kein verlässlicher Beleg für eine ausländische Herkunft mehr. Der Titanstab lieferte jedoch einen stichhaltigen Beweis. Sie hatten die Narbe vernäht und ihm dann obendrein die Zähne gezogen. Shan blickte auf und suchte abermals die Straßen ab. Diese Pionierstadt kam ihm immer noch unnatürlich vor, und zwar nicht bloß weil sie eine von Pekings standardisierten Fertigbausiedlungen war.
Er klemmte sich die zusammengefaltete Zeitung unter den Arm, schlenderte um den Platz und setzte sich wieder, diesmal näher bei den Damespielern, die ihre Bretter auf umgedrehten Kisten aufgebaut hatten. Und erneut nahm er den Park und die vom Wind geplagten bescheidenen Häuser in Augenschein. Auf der Rückseite des Sockels stand ein weiterer Wahlspruch, diesmal auf Chinesisch. Er war kaum noch leserlich, obwohl die Statue wahrscheinlich nicht älter als ein Jahr war. Shan stand auf und versuchte, die Worte zu entziffern. Sie waren sehr sauber und mit überaus leichter Hand geschrieben, um den Anschein einer offiziellen, aber verblassten Aufschrift zu erwecken. Doch das war kein offizieller Slogan. Die wahren Herrscher sind die, deren Existenz kaum bekannt ist.
Shan starrte die Worte ungläubig an und las sie noch einmal. Das war die erste Zeile von Kapitel siebzehn des Tao-teking, verfasst vor mehr als zweitausend Jahren. Dort wurde ausgeführt, dass die besten Herrscher die seien, die für ihre Untertanen kaum in Erscheinung traten, und die schlimmsten diejenigen, die sich in das tägliche Leben einmischten. Worte wie diese wurden von Peking nicht geduldet, es waren die Worte von Dissidenten, wenngleich nicht tibetischen Ursprungs.
Als er sich wieder zu den Damespielern umdrehte, kam es ihm so vor, als hätten sie ihn alle beobachtet. Langsam ginger zwischen ihnen umher. Merkwürdigerweise hatte jeder der Männer ein Buch dabei. Ein Buch über europäische Geschichte, in Englisch. Ein Buch über die Knochenorakel des frühen China. Ein Buch über Zeremonien der letzten Dynastie. Drei der vier Spieler blickten kurz auf und nickten Shan beiläufig zu. Der Vierte hingegen, ein älterer, kultiviert wirkender Herr mit einem grauen Pullunder und einer Brille mit Metallgestell, schien sorgfältig darauf bedacht zu sein, Shan nicht zur Kenntnis zu nehmen. Auf seinem Schoß lag ein Buch mit Gedichten der Sung-Dynastie.
Shan ging weiter, blieb unter einem der Bäume stehen und schaute zurück. In Baiyun gebe es Professoren, hatte Jigten erklärt. Er hatte Jamyangs Geistertafeln an einen Professor verkaufen wollen. Ein junger Mann mit einem Sack Reis auf der Schulter kam vorbei. Er war von gedrungener Statur, seine Haut war fast olivfarben. Die meisten der Stadtbewohner waren hochgewachsen, mit langen, markanten Gesichtern – sie stammten aus dem fernen Nordosten, der Mandschurei. Dieser Mann sah nach Chinas tropischem Südwesten aus, nicht weit von den Stämmen des Regenwalds. Er bog nun in eine Gasse ein. Auch der tätowierte Tote hatte so ausgesehen.
Shan blickte wieder zu den Männern auf dem Platz und versuchte zu begreifen, weshalb er sich so unbehaglich fühlte. Er verspürte so stark wie noch nie den Drang zu fliehen, Lokesh zu finden und in Sicherheit zu bringen. Doch er empfand auch immer mehr das Bedürfnis, diese seltsame, unwirkliche Stadt mit drei Leichen im Kühlraum zu verstehen.
Ein Schmerzensschrei ließ ihn zusammenzucken. Aus der Gasse erklangen leise, hastige Stimmen. Eine Frau stieß einen Fluch aus und keuchte dann auf. Gestalten rannten weg, verschwanden zwischen den Gebäuden.
Als Shan sie erreichte, kniete Meng am Boden und übergab sich.
»Es geht mir gut!«, knurrte sie, als Shan ihr eine Hand auf die Schulter legte.
»Das tut es nicht«, widersprach er. »Sie wurden angegriffen. Ich sollte einen Arzt holen.« Er suchte flink die Umgebung ab. Um die Frau lagen Reiskörner verstreut, der zugehörige Sack ein Stück weiter. Shan sah sich argwöhnisch um. Jemand im Schatten machte kehrt und lief weg, als Shan einen Schritt auf ihn zukam.
»Kein Arzt!«, befahl Meng. Sie beugte sich vor und schüttelte sich den Reis aus den Haaren. Dann stützte sie sich an der Hauswand ab und stand mit einiger
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