Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
genagelt war, flatterten Stofffetzen im Wind. Jemand hatte das neue Laken in Gebetsfahnen verwandelt.
    Die dünne Tür stand ein Stück offen. Shan schob sie behutsam auf, und als niemand reagierte, trat er ein. Durch eine kleine Kochnische gelangte er in den Raum, der den Rest der Hütte darstellte. Unter dem einzigen Fenster saß Jigten zusammengesunkenvor der Wand. Anscheinend war er vor lauter Erschöpfung ohnmächtig geworden. Vor ihm lag eine alte Frau auf einer Pritsche. Ihr ledriges Gesicht zeugte von großer Stärke und Entschlossenheit, obwohl es sie viel Kraft zu kosten schien, ihren Kopf in Shans Richtung zu drehen. Trotz ihrer offensichtlichen Erkrankung lächelte sie einladend. »Es kommen nicht viele Besucher zu unserem Zelt«, sagte sie heiser.
    » Tashi delay «, grüßte er sie auf Tibetisch.
    »Ich sollte Tee machen«. Ihre Stimme war wie Sandpapier.
    »Ich habe gerade Tee getrunken, Großmutter«, erwiderte er. »Mir gefallen eure Gebetsfahnen.«
    »Jigten hat die ganze Nacht daran gearbeitet und mich gebeten, jede Einzelne zu segnen. Ich sagte, dass dieser fette Ziegenbock von Verwalter sich bestimmt darüber aufregen wird. Aber mein Sohn hat gemeint, sobald die Fahnen hängen, würden die Götter sie für die Augen der Beamten unsichtbar machen.«
    Shan griff in die Tasche, holte eine der kleinen Ton-Gottheiten hervor, die er auf dem Markt in Baiyun gekauft hatte, und drückte sie der Frau in die Hand.
    Ihr dankbares Lächeln wurde durch trockenen, stoßweisen Husten unterbrochen. Shan sah die Schweißperlen auf ihrer Stirn. Sie hatte Fieber. Auf einem Hocker neben ihr stand eine Schale Wasser mit einem Lappen. Shan tauchte ihn ein, wrang ihn aus und wischte ihr die Stirn ab.
    »Ich war mal auf der Changtang«, sagte er. »Da habe ich Antilopenherden gesehen, die sind wie der Wind über das Gras gesaust. An meinem letzten Tag kam ein großes Tier zu mir, ein altes Männchen. Es hat mich mitleidig angesehen, als würde es sagen, was für ein armer Narr ich doch sei mit meinen zwei Beinen, und dann ist es davongelaufen. Ich schwöre, seine Hufe haben den Boden gar nicht berührt, es ist einfach über das Gras geflogen. Ich träume immer noch von ihm.«
    »Ein chiru . Sein Geist hat sich mit deinem vermischt. Ein gutes Zeichen«, sagte die Frau und fing dann an, von ihrer Jugend zu erzählen, als die Antilopenherden noch Zehntausende von Köpfen gezählt hatten.
    Shan wrang den Lappen zum dritten Mal aus, als er plötzlich ein lautes Keuchen hörte und Jigten auf ihn zusprang, als wolle er ihn angreifen. Seine Faust holte bereits zum Schlag aus, als er erstarrte und nach unten blickte. Die knochendürre Hand seiner Mutter hatte ihn am Knöchel gepackt. »Wir haben einen Gast im Haus«, tadelte sie, als hätte Shan soeben ihre Jurte in der Wildnis betreten.
    »Er ist ein Chinese!«, protestierte Jigten. »Ein Beamter!«
    »Nein, er ist etwas anderes«, beteuerte seine Mutter. »Er hat die Gebetsfahnen gesehen. Der Geist eines chiru lebt in seinen Träumen.«
    Jigten gab klein bei. Er blickte nach oben, und nun sah auch Shan dort ein Brett über zwei Zementblöcken liegen, den Familienaltar. Darauf stand die alte bronzene dakini , die Jamyang dem Dieb gegeben hatte. Mit zutiefst bekümmerter Miene streckte Jigten den Arm aus, nahm die kleine Statue und hielt sie Shan hin.
    »Nein«, lehnte Shan ab. »Dies ist ihr Platz, sie wacht über euer Heim. Sie ist eine Schutzdämonin.«
    »Ich glaube, er ist hergekommen, weil er mit dir sprechen möchte, Sohn«, sagte die Frau.
    Der verkrüppelte Dieb schob die Hand seiner Mutter sanft unter die Decke. »Ich könnte etwas Gerstenbrei machen«, bot er an, um seiner Mutter willen.
    »Es wäre mir eine Ehre«, sagte Shan. »Vielleicht bei meinem nächsten Besuch. Warum bist du zu Jamyangs Schrein gegangen?«
    Jigtens Kopf ruckte zu seiner Mutter herum, die Augen vor Bestürzung weit aufgerissen. Er tat Dinge, die die alte Fraunicht gutheißen würde. »Manchmal tauchen Sachen einfach auf, wenn man sie braucht«, sagte er unbeholfen.
    »Wieso genau an jenem Tag?«
    Der Hirte schaute zu seiner Mutter, die ihn erwartungsvoll ansah, und runzelte dann die Stirn. Er würde es nicht fertigbringen, in Gegenwart seiner sterbenden Mutter zu lügen. Als er antwortete, flüsterte er. »Am Straßenrand gab es einen alten Steinhaufen. Ein Lastwagen hatte ihn gerammt. Ich habe Jamyang dort unten gesehen, wie er ihn wiederaufgebaut hat.«
    Shan blickte wieder zu der alten Frau.

Weitere Kostenlose Bücher