Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
friedfertigen Methoden ihrer Ältesten.
»Sie hat gesagt, wir sollten sie uns wie Phantome vorstellen, wie Schutzdämonen, die man nicht sehen kann. Ist es das, was du bist?«
Shan zuckte die Achseln. »Ich bin bloß ein ehemaliger Sträfling, den alle sehen können.« Dann wurde ihm bewusst, was sie zuvor gesagt hatte. »Du meinst, die purbas haben die Westler gebracht?«
Chenmo sah wieder das alte gau an, als würde sie es um Rat fragen. »Ein Deutscher und eine Amerikanerin. Sie machen Filme. Sie haben zu uns gesagt, wenn sie die Restaurierungfilmen dürfen und den Film dann im Westen zeigen, wäre das Kloster geschützt, und Peking könnte es nicht mehr zerstören.«
»Warum ihr?«
»Weil es mal unseres war. Ich meine, die Einsiedelei war früher mal Teil des Klosters. Wir sind, wo der Funke am Leben erhalten wird, nachdem das Kloster bombardiert wurde.«
»Und die Ausländer haben die Restaurierung gefilmt?«
»Ja. Mit kleinen Kameras. Und sie haben Interviews gemacht.«
»Meinst du Videokameras?«
Chenmo zuckte die Achseln, formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und hielt ihn sich vor ein Auge. »Kleine Kameras.« Shan wusste, dass es immer noch viele Tibeter gab, die wenig oder keine Erfahrung mit moderner Technik hatten und auch wenig oder keine Neigung verspürten, jemals welche zu sammeln.
»Haben diese Fremden bei euch in der Einsiedelei gewohnt?«
»Wir leben in gefährlichen Zeiten, hat die Äbtissin uns gewarnt. Es sind Chinesen in den Hügeln unterwegs. Knochenfänger und andere, die Bauern verprügeln. Wir konnten nicht riskieren, die beiden nach Tausend Stufen zu bringen. Nur wenige von uns in der Einsiedelei haben überhaupt davon gewusst. Sie hat gesagt, falls die Behörden herausfänden, dass wir illegale Ausländer beherbergen, würden sie die Einsiedelei zerstören und uns alle ins Gefängnis werfen.« Die nördliche Region des Bezirks Lhadrung zählte zu den Gebieten Tibets, die aufgrund ihrer vielen Straflager für Ausländer verboten blieben.
Shan wusste, dass die junge Frau ihre Grenzen hatte und es an Orten wie Einsiedeleien verschiedene Schichten von Geheimnissen gab, die man nur vorsichtig eine nach der anderenlüften konnte. »Lokesh sagt, wir können viel über die Vorgänge im Innern Tibets lernen, indem wir denen zuhören, die von außerhalb kommen. Wie lauten ihre Namen?«
»Rutger und Cora. Die beiden waren immer zusammen«, murmelte sie und hob dann stirnrunzelnd den Kopf, als hätte sie nicht beabsichtigt, die Namen preiszugeben.
»Rutger«, sagte Shan. »Dunkles Haar. Acht oder zehn Zentimeter größer als ich. Mit kantigem Kinn.«
»Wenn du ihn getroffen hast, warum fragst du?«
»Ich habe ihn nur kurz getroffen«, erklärte Shan. Ohne sein Gesicht. Ohne seine Zähne. Ohne sein Leben. »Auch er wurde ermordet, Chenmo, gemeinsam mit der Äbtissin.«
Sie nickte ernst. Sie hatte vom Tod des Deutschen gewusst.
»Ich mache mir Sorgen um Cora. Sie ist nun ganz allein. Weißt du, wo sie sich aufhält?«
»Ich bete, dass sie nachts nicht mehr schreit. Ich bete um Stille«, erwiderte Chenmo. »Denn in Stille muss sie ab jetzt leben.«
Shan begriff nicht. »Du meinst, sie ist in der Einsiedelei?«
Doch Chenmo deutete nur auf einen Schmetterling. Dann stand sie wortlos auf, lief dem Insekt hinterher und entfernte sich immer weiter. Da erst verstand Shan, was sie ihm mitgeteilt hatte. Cora und Rutger waren immer zusammen. Cora schreckte nachts schreiend aus Albträumen hoch. Sie musste still sein, um zu überleben. Die vermisste Amerikanerin war Zeugin der Morde gewesen.
KAPITEL FÜNF
Einige Monate zuvor hatte Shan Lastwagen gesehen, die Leute und Ausrüstung in das flache Hügelgebiet jenseits der chinesischen Siedlung transportierten. Doch in einem Land zahlreicher Gefängnisse und ständiger Militäroperationen lernte man, keine Fragen über seltsame Fahrzeugkolonnen zu stellen, und hielt sich von den Staubwolken fern, die von Bautätigkeit zeugten. Er wusste noch, wie er am Straßenrand gehalten hatte, um eine dieser Kolonnen passieren zu lassen. Die Aufschriften auf den Begleitfahrzeugen waren seinem grimmigen Blick nicht entgangen. Das Büro für Religiöse Angelegenheiten, Pekings bevorzugter Arm, um Parteidogmen in ethnische Propaganda zu verwandeln. Die Öffentliche Sicherheit. Das Institut für Tibetische Angelegenheiten, dem es oblag, die zunehmende Menge chinesischer Einwanderer zu verteilen und die einheimischen Tibeter dafür umzusiedeln.
Das
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