Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Ende des Blocks traten drei Kinder und eine Frau mit Handtüchern. Das musste das Gemeinschaftswaschhaus sein. Ein halbes Dutzend anderer Frauen hatte sich mit Eimern vor einem Wasserhahn angestellt, der braune Brühe ausspuckte.
Shan versuchte, den Menschen in die Gesichter zu sehen. Die meisten wandten sich von ihm ab. Ein alter Mann, der auf einer Bank aus Betonziegeln und Brettern saß, blickte von dem Stück Holz auf, an dem er schnitzte. Shan setzte sich neben ihn und bot ihm eine Rolle Bonbons an, die er in seiner Tasche gefunden hatte. Der Mann nahm das Geschenk nickend an und widmete sich wieder seiner Aufgabe. Er arbeitete an der Figur eines Schafes.
»Sag mir, Großvater, was ist aus euren Herden geworden?«
Der Mann rieb sich die Bartstoppeln, bevor er antwortete. »Die haben gewartet, bis wir alle Herden zusammengetrieben hatten. Wir wollten das Lammzeitfest unseres Clans feiern. An jenem Tag sind zwei Kolonnen Viehtransporter gekommen. Die eine Kolonne hat die Schafe mitgenommen, die andere die Hirten. In manchen Lagern haben sie die Tiere einfach alle erschossen, auch die Hunde. Meine Enkelin hatte es geschafft, einen Welpen auf den Lastwagen zu schmuggeln. Am nächsten Tag hat ein Soldat das Tier mit dem Gewehrkolbenerschlagen und gesagt, es habe gerade die richtige Größe für den Kochtopf der Kompanie.«
Shan schaute zurück zu dem Verwaltungsgebäude. Der Verwalter beobachtete ihn durch einen Türspalt. »Das tut mir leid.«
Der Mann nickte erneut.
Während er weiterschnitzte, musterte Shan sein ledriges, runzliges Gesicht. Er war alt, Mitte achtzig oder sogar schon über neunzig. »Ich bin mal über die Changtang gereist«, sagte Shan. »Ein Meer aus Gras, so weit man sehen konnte, und es wogte im Wind wie Wellen. Ich glaube, ich habe mich noch nie so frei gefühlt.«
»Manche von uns sind an jenem Tag weggelaufen. Ich war ihr Clanältester. Sie nennen mich Rapeche. Sie brauchen mich. Hier bin ich nutzlos. In meinen Adern fließt unser Heimatland. Ich wollte zurückkehren. Letzten Monat bin ich einfach losgegangen, aber einen Tag später haben die Kriecher mich wieder eingesammelt.« Der alte Hirte hielt inne und zuckte dann die Achseln. »Die haben uns Papiere gegeben, in denen steht, dass wir in diesem Bezirk bleiben müssen, es sei denn, wir haben einen Passierschein. Nur stellen die uns nie einen Passierschein aus.«
Das hier war ein Gefängnis ohne Gitter. Shan blickte den Weg zwischen den Häusern hinauf und hinunter. »Wo sind die jungen Männer und Frauen?«
»Die Chinesen von der Umsiedlungsbehörde haben allen Familien mitgeteilt, ihre jungen Mitglieder hätten dem Volk zu dienen. Sie wurden in chinesische Fabriken geschickt. Ich sagte, wir seien doch auch ein Volk, aber da haben sie nur gelacht. Meine Enkelin ist jetzt in Guangdong. Sie schreibt uns einmal im Monat. Sie stellt Socken her, die in Amerika verkauft werden, und muss jeden Tag zwölf, manchmal vierzehn Stunden arbeiten. Ihr Bett steht in einem Schlafsaal mit zweihundertanderen Mädchen. Sie sagt, sie hat einen alten Tempel entdeckt und leiht sich an ihrem freien Tag ein Fahrrad, um dorthin zu fahren. Sie zündet Weihrauch für uns an.«
Zwei kleine Jungen rannten vorbei und spielten Fußball mit einer Blechdose. In der Nähe des Wasserhahns blieben sie stehen. Eine der Frauen war weinend auf die Knie gesunken, eine andere trat gegen den Hahn.
Der Clanälteste runzelte die Stirn. »Die Narren, die diesen Ort errichtet haben, wussten nichts über Lagerplätze. Kein Schutz vor dem Wind. Kaum Wasser. Die haben ein halbes Dutzend Brunnen gebohrt, aber alle bis auf den dort sind versiegt. Lager des Reinen Wassers, von wegen.« Er zuckte abermals die Achseln. »Die sagen, sie stellen einen Tanklaster auf den Parkplatz.«
»Ich suche nach einem Mann namens Jigten. Er humpelt.«
»Weswegen sie ihn nicht in die Fabriken geschickt haben«, sagte Rapeche. »Seine Mutter ist kaum noch kräftig genug, um aus dem Bett zu kommen. Ihre Lunge rasselt. Um ihr zu helfen, macht er Sachen, die sie niemals gutheißen würde, falls sie davon wüsste.« Er schnitzte weiter. »Wir tun, was wir müssen, um zu überleben.«
Die Hütte, die der alte Mann Shan nannte, die letzte in der nördlichsten Reihe, schien unbewohnt zu sein. Die Kohlenpfanne an der Tür war leer, und entlang der Vorderwand ragten auch keine sorgsam gehegten Gemüsetriebe aus dem Boden, so wie vor anderen Behausungen. Doch von einem Seil, das an die hintere Ecke
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