Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
in der Bewegung. Er wirbelte zu Shan herum. »Das dürfen Sie nicht!«, rief er. Dann schien er sich zusammenzureißen und ließ weiter schweigend die Teeblätter in zwei angeschlagene Tassen rieseln, bevor er sich zu Shan an den Tisch gesellte. »Bitte«, sagte er leise und flehentlich. »Er muss auf dem Berg bleiben. Auch er befindet sich im Exil.«
Shan wartete, bis seine Tasse gefüllt war. Dann sprach er durch den Dampf, der vom Tee aufstieg. »Vielleicht sollten Sie mit Harbin beginnen.«
Professor Yuan Guo hatte den größten Teil seines Lebens in Harbin verbracht, erklärte er. Er war Doktorand an der dortigen Universität gewesen, als sie von Mao geschlossen wurde, und arbeitete bis zu ihrer Wiedereröffnung in einer Lokomotivenfabrik. Er half dabei, den Fachbereich für chinesische Geschichte aufzubauen, und heiratete eine Professorenkollegin, die während ihrer Umerziehung in einem Chemiewerk beschäftigt gewesen war. Zehn Jahre später starb sie an Krebs. Yuan zog seine Tochter fortan allein auf. Vor vier Jahren war er dann in den Ruhestand gegangen und hatte sein beschauliches Dasein damit verbracht, in der Universitätsbibliothek alte Manuskripte zu erforschen, bis seine Tochter Sansan wegen regierungsfeindlicher Internetaktivitäten verhaftet worden war. »Ihr drohten einige Monate Gefängnis, aber die Öffentliche Sicherheit machte erschwerende Umstände geltend. Sansan wurde als Rädelsführerin einer Gruppe von Demokratiebefürwortern identifiziert. Auch die anderen Mitglieder waren Kinder der pensionierten Professoren in unserem Gebäude. Es gab eines dieser Treffen, die wir früher Kritiksitzungen genannt haben. Man befand uns für politisch verantwortungslos. Zu Maos Zeiten hätte man uns als Unruhestifter gebrandmarkt und mit Eselsmützen durch die Straßen getrieben.«
Shan trank einen Schluck Tee. »Meine Familie wurde auf die Reisfelder geschickt, weil wir den stinkenden Neunten angehörten.« Damit waren die niedersten Kreaturen auf Maos berüchtigter Liste der neun schädlichen Elemente gemeint, die Intellektuellen.
Yuan grinste, beugte sich vor und erzählte seine Geschichte etwas detaillierter. Sie waren wie zwei alte Soldaten, die Kriegserlebnisse austauschten. Yuan hatte sich auf die Geschichteder chinesischen Kaiserzeit spezialisiert, seine Frau auf westliche Geschichte. Ihre Tochter hatte ein Anthropologiestudium abgeschlossen und zwei Jahre für eine westliche Computerfirma gearbeitet, bis sie in einem Internetcafé festgenommen wurde. Der Besitzer des Cafés war eine Woche zuvor verhaftet worden, weil er die Personalien seiner Kunden nicht sorgfältig genug erfasst hatte. Um freizukommen, hatte er eingewilligt, der Öffentlichen Sicherheit dabei behilflich zu sein, seinen Kunden eine Falle zu stellen.
»Man sagte uns, unsere Kinder würden entweder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt oder wir könnten uns alle dem Pionierprogramm anschließen. Jede Familie in unserem Gebäude musste sich um drei Uhr morgens am Bahnhof einfinden, mit nicht mehr als fünfzig Kilo Gepäck.«
»Das gesamte Gebäude?«
»Wir waren ein Sonderfall, ein Haus voller Professoren, teilweise noch aktiv, teilweise im Ruhestand, deren Kinder alle gut ausgebildet waren und sich mit Internetdemokratie auskannten.« Internetdemokratie. Das war einer der Begriffe des neuen Zeitalters; er bezeichnete all jene, die ihr Dissidententum anonym über das Internet ausübten. Nur dass die Regierung inzwischen über Möglichkeiten verfügte, die sicherstellten, dass niemand mehr das Internet anonym nutzen konnte. »Wir würden das Bildungssystem kontaminieren, hat jemand aus der Partei gesagt. Also sollten wir verschwinden. Von der Universität. Aus der Stadt. Aus der Mandschurei. Manche meiner Kollegen glauben, der wahre Grund war, dass ein Stadtplaner aus der Partei das Gebäude abreißen und einen Wolkenkratzer errichten wollte.«
»Und alle waren einverstanden, nach Tibet zu gehen?«
Auf Yuans Gesicht erschien wieder dieses traurige Lächeln. »Wir wurden in einen Zug gesetzt. Unter Bewachung. Wir hatten keine Ahnung, was das Ziel der Reise sein würde. Dakönnte man beinahe nostalgisch werden. Es war wie früher.« Er meinte die Jahre unter Mao, als die Bevölkerung ganzer Häuserblocks einfach in die neuen chinesischen Städte beordert wurde, die man in den moslemischen und buddhistischen Regionen im Westen Chinas errichtete.
Shan neigte ungläubig den Kopf. »Sie wollen sagen, die Behörden haben eine
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