Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
die Treppe hinauf in einen Raum, der gut zu einem Bordell in einer beliebigen Stadt im Osten gepasst hätte. Die Bretterwände des Obergeschosses verschwanden hinter bunten Siebdruckbehängen aus Seide, Bildern von kämpfenden Drachen, kämpfenden Hähnen, kämpfenden Schlangen und sparsam bekleideten Frauen, die mit Pandas herumtollten. Der Geruch von Zwiebeln und gedünstetem Reis vermischte sich mit dem von Weihrauch, allerdings nicht von der Sorte, die bei tibetischen Zeremonien verwendet wurde, sondern eine widerliche Mischung aus Jasmin und Zimt. Eine helle Laterne hing über einem Tisch, an dem vier Männer Mah-Jongg spielten.
»Es heißt, du kennst diesen Lama, der allein oben auf dem Berg lebt.« Der Mann, der sprach, verscheuchte die anderen mit einer Handbewegung vom Tisch. Er war Mitte vierzig, von gedrungener Statur, mit langem schwarzen Haar und dem harten, kleinen Gesicht eines Dschungelkriegers.
Shan nahm gegenüber von ihm Platz, bevor er antwortete. »Seit wann interessieren die Jadekrähen sich für Einsiedler?«
»Bei uns zu Hause zählen Mönche zu unseren besten Kunden.«
»Ihr seid weit weg von Yunnan.« Shan warf einen Blick auf die anderen Männer, die im Schatten standen, als würden sie auf Befehle warten.
»Die frische Bergluft tut uns allen gut.« Der Mann zündete sich eine Zigarette an.
»Der Lama war ein Freund von mir. Er ist tot.«
Der Fremde zögerte. »Tot? Jamyang ist gestorben? Wann?«
»Am selben Tag wie die Opfer im Kloster. Die habe ich aber nicht gekannt.«
Der Mann musterte Shan mit kaltem Blick, wie der einer zusammengerollten Schlange. »Du hast sie erst nach ihrem Tod kennengelernt. Du hast im Kloster über ihnen gestanden und sie dann in diesem Kühlraum aufgesucht, nackte tote Menschen. Bei uns zu Hause hätten wir dir jede Woche zu einem solchen Erlebnis verhelfen können. Mit Fetischen lässt sich viel Geld machen.« Er blies Shan eine Rauchwolke ins Gesicht. »Nur dass es mein Bruder war, den du wie ein Stück Fleisch behandelt hast.«
»Ich weiß nicht, was mit den Leichen geschehen ist, wenn du das meinst.«
»Der Anführer unseres Clans hatte Besseres verdient.«
Der Anführer des Clans. Der Tote war das Oberhaupt der Jadekrähen gewesen. »Niemand verdient es, dass ihm der Kopf abgeschlagen wird«, entgegnete Shan.
Die Worte ließen den Mann wütend das Gesicht verziehen.
Shan schaute zu den anderen Männern, die ihn eiskalt und erwartungsvoll beobachteten. Zu Beginn seiner Laufbahn war er mal im Zuge einer Ermittlung nach Yunnan gereist, wo ein großer Teil der Bevölkerung nur zwei oder drei Generationen von den kriegerischen Stämmen entfernt war, die einst die Dschungel der Provinz beherrscht hatten. Der Fall verliefletztlich im Sande, denn Shans Informant wurde gefoltert und ermordet. Die Täter hatten ihm Bambusspäne unter die Fingernägel getrieben und ihm dann die Kehle aufgeschlitzt. Shan hatte darauf bestanden, sich die Fotos des Toten anzusehen, und dafür mit mehreren schlaflosen Nächten bezahlt. »Ich bin nicht der Mörder.«
»Du?«, stieß der Anführer mit spöttischem Lachen hervor. »Mein Bruder wurde mal von drei Konkurrenten gleichzeitig überfallen und hat einen ins Grab und die anderen beiden ins Krankenhaus geschickt. Ich bin Lung Tso. Mein Bruder war Lung Ma. Die Leute in Kunming erzittern, wenn sie den Namen der Brüder Lung hören.« Lung betrachtete Shan und seine schäbige Kleidung. »Jemand wie du könnte nie und nimmer eine Jadekrähe töten.«
»Und wer könnte es?«, fragte Shan.
Lung griff unter den Tisch. Es gab eine kaum wahrnehmbare Bewegung, und seine Faust hämmerte einen Dolch in die Tischplatte, nur wenige Zentimeter von Shans Hand entfernt. Shan rührte sich nicht. »Du wurdest nicht hergebracht, um uns Fragen zu stellen! Ich will zurückhaben, was uns gehört!«
»Ich bin der Aufsichtsbeamte für die Gräben des nördlichen Abschnitts. Du verwechselst mich mit jemand anderem.«
Shan wappnete sich, denn Lung sprang von seinem Stuhl auf, zog den Dolch aus dem Holz und richtete ihn auf Shans Kehle. »Du magst die Kleidung eines Grabeninspektors tragen und den Wagen eines Grabeninspektors fahren, aber ich kann deine Augen sehen. Und du warst in dem alten Kloster bei den Leichen. Wir sehen dich mit dieser verfluchten Kriecher-Offizierin sprechen. Du bist kein Grabeninspektor. Was hat ein Grabeninspektor am Schauplatz eines Mordes verloren? Du bist ein verdammter Spitzel. Für wen arbeitest du? Jedenfalls
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