Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Dissidentenzelle intakt gelassen und einfach nur verpflanzt?«
»Die wussten, wohin man uns bringen würde. In eine Wildnis im Hochgebirge. Mit so knappen Ressourcen, dass es kaum zum Überleben reicht. Die haben darauf vertraut, dass Tibet uns in die Knie zwingen würde. Wir konnten hier ohnehin keinen Schaden anrichten. Und die Partei hatte den neuen Pioniersiedlungen ehrgeizige Vorgaben auferlegt. Die hatten Probleme, ihre Quoten zu erfüllen.«
»Aber das Leben eines pensionierten Professors in Harbin …« Shans Stimme erstarb. Sie wussten beide, was er meinte. Professoren arbeiteten während ihrer gesamten Laufbahn für ein niedriges Gehalt, weil ihnen für den Ruhestand Privilegien zugesichert wurden: eine komfortable Unterbringung, die uneingeschränkte Nutzung der universitären Einrichtungen, die Möglichkeit, zu studieren und zu schreiben, was sie wünschten, und die Berufung in renommierte Kommissionen.
»Meine Tochter Sansan ist schon immer von zarter Gesundheit gewesen. Sie hätte die Haft niemals überlebt. Nun können wir jeden Tag an der frischen Luft spazieren gehen. Die Ziegen geben uns Milch. Sansan wird jeden Tag kräftiger.«
»Professoren und Jadekrähen. Das nenne ich aber mal ein sozialistisches Experiment.«
»Mehr als neunzig Prozent von uns kommen aus Harbin. Der Rest stammt aus den Dschungeln der Provinz Yunnan.«
»Kriminelle, die sich mit Schmiergeld einen Weg ins Exil anstatt ins Gefängnis erkauft haben«, sagte Shan.
Der Professor lächelte matt. »Wir stellen sie uns lieber als einen tropischen Geselligkeitsverein mit Wanderlust vor. Wie ich gehört habe, sind die Strafanstalten in Yunnan auch ziemlich überbelegt.«
»Aber sie haben bereits begonnen, die …« Shan wurde durch neuerliche Rufe von draußen unterbrochen. Yuan lief zum vorderen Fenster.
Es war nun wieder mehr Polizei zu sehen. Die Beamten schoben mehrere Mülltonnen auseinander und öffneten die Kofferräume von Fahrzeugen. Als ein Mann in grauer Uniform auf Yuans Haustür zukam, keuchte dieser unwillkürlich auf. Er eilte zu seinem Esstisch, schnappte sich eine Rolle Papier, setzte sich auf einen der beiden Sessel im Raum, nahm ein Buch und schlug es auf. Die Rolle versteckte er hinter seinem Rücken. Während er noch damit beschäftigt war, rannte eine dünne Frau Ende zwanzig aus ihrem Schlafzimmer. Auf ihre Berührung hin leuchtete ein Computerbildschirm auf. Yuans Tochter tippte hastig etwas ein, zog eine Speicherkarte heraus und lief zurück in ihr Zimmer.
Der Kriecher-Sergeant machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen oder seinen Namen zu nennen. Er stieß einfach die Tür auf und starrte den Professor wütend und herausfordernd an. »Unser Haus steht Ihnen offen«, sagte Yuan und hob dabei nur kurz den Blick von seinem Buch.
»Selbstverständlich tut es das«, herrschte der Mann ihn an, winkte dann zwei Begleiter herein und schickte sie in die anderen Zimmer. Er selbst fing an, im ersten Raum herumzulaufen, hob Bücher an und zog einen Stapel Kissen zurück, der an einer Wand lehnte. Von weiter hinten erklang leise Marschmusik. Sansan hatte eine der patriotischen Internetseiten der Partei aufgerufen, auf der rund um die Uhr Militärparaden und marschierende Fabrikarbeiter gezeigt wurden.
Der Kriecher öffnete den Wandschrank neben der Türund klappte dann mit dem Fuß eine Ecke des Teppichs um, als könnte sich dort eine Falltür befinden. Danach ging er in die Küche, klopfte die Wände ab und öffnete sogar den Kühlschrank. »Der ist kaputt«, verkündete er und nahm eine Schachtel Salzgebäck und ein Buch heraus.
»Der hat noch nie funktioniert«, sagte Yuan fröhlich. »Aber er ist ein großartiges Statussymbol. Keiner der Tibeter besitzt einen.«
Der Sergeant nickte beifällig. Seine Männer kamen zurück. Als die drei das Haus durch den Ausgang in der Küche verließen, erteilte er den Befehl, den kleinen Geräteschuppen am Ende des Hinterhofs zu durchsuchen.
»Die haben sich heute zweimal Ihr Haus vorgenommen«, stellte Shan fest, während Yuan von der Tür aus beobachtete, wie die Kriecher kurz den Schuppen betraten und dann seinen Hof verließen. »War es beide Male die Öffentliche Sicherheit?«
»Keine Ahnung«, sagte Yuan mit einem nervösen Blick zum Schlafzimmer. »Nein. Die Ersten waren bloß von der Bewaffneten Volkspolizei. Sie haben uns mit Megafonen befohlen, hinaus auf die Straße zu treten. Die sind nicht ganz so subtil.«
»Aus dem Kühlraum des Ladens wurden die
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