Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
erklären.«
Lung starrte ihn schweigend an.
»Und es waren drei«, versicherte Shan. »Dein Bruder. Eine Nonne. Und ein Ausländer. Finde heraus, was die gemeinsam hatten, und wir werden ihren Mörder finden.«
»Wir?«, höhnte Lung.
»Wie gesagt, mein Freund hat ebenfalls an jenem Tag sein Leben verloren. Und zwar wegen dieser Morde. Als er starb, war er aufgewühlt. Ich habe ihm versprochen, ich würde der Sache auf den Grund gehen.«
Die Männer, die Shan festhielten, ließen ihn los und wichen zurück. Lung warf ihnen einen nervösen Blick zu. Die dunklen, dichten Wälder von Yunnan waren für ihre Gespenster berüchtigt. »Du hast es ihm versprochen?«, fragte er verunsichert. »Er ist tot.«
»In Tibet wandern die Geister derjenigen, die einen gewaltsamen Tod erlitten haben, verzweifelt umher, bis es eine Lösung gibt.« Seine Bewacher schritten nicht ein, als er anfing,seine Habseligkeiten wieder in den Taschen zu verstauen. »Man nennt sie jungpos . Hungrige Geister. Sie mögen die Nacht. Sie suchen gern diejenigen heim, die ihnen etwas schuldig geblieben sind.«
Die Worte zogen abermals ein langes Schweigen nach sich. Dschingis stieß einen leisen Fluch aus und wich noch einen Schritt zurück.
Nur Lung wirkte unbeeindruckt. »Ein Chinese, der irgendeinem toten Tibeter hilft? Wohl kaum. Eher ein gottverdammter Spitzel, der auf Beute aus ist.«
»Mein Freund Jamyang. Die Äbtissin. Dein Bruder. Sie alle sind jetzt jungpos . Das alte Kloster ist nicht allzu weit von hier entfernt. Lung Ma wird vermutlich herkommen und nach dir suchen. Was wirst du zu ihm sagen, wenn er dich fragt, wieso er sterben musste? Was wirst du ihm versprechen, wenn er verlangt, dass man seinen Mörder findet?«
Lung schaute erneut zu seinen Männern. Shans Worte hatten sie eindeutig aus der Fassung gebracht. Der Dolch in seiner Hand schoss ein weiteres Mal vor und grub sich direkt an Shans Hand in den Tisch. Etwas Blut tröpfelte hervor. »Du bist es, den mein Bruder sich vornehmen wird, falls du dich weiterhin einmischst«, knurrte er und hob die Klinge. Shan wurde sehr ruhig, als die Spitze sein Handgelenk berührte und seinen Ärmel hochschob, als suche sie nach einem Blutgefäß. Bei der eintätowierten Nummer auf Shans Unterarm hielt sie an. Ein grausames Grinsen erschien auf Lungs Gesicht. » Lao gai ?«, fragte er. Das war die Bezeichnung für die Zwangsarbeitskolonnen, die schlimmsten aller Straflager in Lhadrung.
Shan nickte stumm.
»Wie lange?«
»Fünf Jahre.«
»Wo?«
»Bei der 404. Baubrigade des Volkes. Fünfzig Kilometer südlich von hier.«
Lung grinste. »Perfekt. Das ist praktisch ein Geständnis, dass du ein Mörder und Dieb bist.«
Shan verfolgte überrascht, wie Lung die Klinge weglegte, dann einen Bleistift und ein Stück Papier hervorholte und sich die Nummer notierte. »Falls du etwas mit dem Tod meines Bruders zu tun gehabt hast, werde ich dafür sorgen, dass dein Sterben sich über Tage hinzieht«, knurrte er.
Lung steckte den Zettel ein, setzte das Messer schräg an der Tischkante an und schnitt einen langen, breiten Splitter davon ab. Diesen zerteilte er dann systematisch in fünf kleinere, flachere Späne und legte sie vor sich hin. Unterdessen packte einer der Männer von hinten Shans Handgelenk und zwang ihn dazu, die Hand mit gespreizten Fingern auf den Tisch zu legen. »Wir machen das hier, werde ich zu meinem Bruder sagen, falls er kommt und danach fragt. So verfahren die Jadekrähen mit Spitzeln.« Er schaute zu Dschingis. »Wodka«, befahl er, als mache er es sich für das Unterhaltungsprogramm des Abends gemütlich.
Der Bandenführer starrte Shan an, bis der junge Mann ihm die Flasche brachte und ein Glas einschenkte. Lung kippte die Hälfte mit einem Schluck hinunter. »Die Sonne ist untergegangen. Wir haben die ganze Nacht«, sagte er dann. Seine Stimme nahm einen sachlichen Tonfall an. »Zuerst wirst du mir verraten, wo es ist, was dieser elende Lama meinem Bruder gegeben hat.« Er zog die Schublade des Tisches auf, nahm einen kleinen Hammer heraus und dazu einen der langen Späne. Dann hielt er inne und blickte verwirrt hoch. Auf einem der Wandbehänge mit Drachen pulsierte ein rotes Licht.
Dschingis schob ihn beiseite und legte das Fenster dahinter frei. Er fluchte. »Diese Kriecher-Schlampe!«
Als sie Shan nach draußen brachten, lehnte Leutnant Mengan ihrem Wagen und hielt ihr Polizeifunkgerät wie eine Waffe in der Hand. Hinter ihr blitzte eine Signalleuchte mit
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