Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
nicht um Patrioten handelt.«
Shan zögerte, als sie das Gebäude erreichten. »Wurde Ihnen auch befohlen, mich zu finden?«
Statt zu antworten, öffnete sie die Tür.
In dem kleinen Café war es dunkel, abgesehen von einem einzelnen Tisch in der Mitte, über dem eine nackte Glühbirne von der Decke hing. Dort saß Major Liang vor einer Akte und starrte die Glut seiner Zigarette an. Meng nahm gegenüber von dem Major Platz und blickte erwartungsvoll zu Shan hoch. Er sollte weglaufen. Er sollte Lokesh ausfindig machen und sich mit ihm in einer Höhle verkriechen, um ein paar Monate lang zu meditieren. Shan setzte sich, obwohl alles in ihm lautstark dagegen protestierte.
»Ich werde nur ganz besonderen Projekten zugewiesen«, sagte Liang zu seiner Zigarette. »Vor drei Jahren ist ein Kloster in Streik getreten, fünf Tage vor dem geplanten Besuch einiger ausländischer Diplomaten. Die Mönche dachten, der Besuch könne ihnen als Druckmittel gegen uns dienen. Sie haben ihre Treueide zerrissen und ein Bild ihres verdammten Revisionistenführers aufgestellt. Also wurde ich gerufen. Bis zum Abend des ersten Tages befanden die Mönche sich auf dem Weg in zehn verschiedene Gefängnisse und würden sich nie wiedersehen. Bis zum Ende des zweiten Tages hatten Planierraupen das Kloster dem Erdboden gleichgemacht. Bis zum Ende des vierten Tages war sämtlicher Schutt abtransportiert, und ich hatte frisch gedruckte Straßenkarten vorliegen, auf denen das Kloster nicht mehr verzeichnet war. Als die Würdenträger eintrafen, haben wir uns entschuldigt und erklärt, es habe einen dummen Fehler gegeben, irgendein Missverständnis bei der Planung. Wir haben ihnen die neue Karte gezeigt und sie stattdessen zu einem folgsamen Kloster gebracht, in dem die Mönche ihnen zur Begrüßung patriotische Lieder vorgesungen haben. Nachdem alle wieder weg waren, habe ich zehn Lastwagenladungen Salz über das ehemalige Klostergelände verteilen lassen. Für die nächsten Jahrzehnte wird dort nichts wachsen.« Er hob schließlich den Kopf und sah Shan an. »Das hat mir einen Orden und eine Beförderung eingebracht.«
»Ein Mann mit Ihren Talenten gehört ganz eindeutig nach Peking«, stellte Shan tonlos fest.
»Aber ich habe so viel Freude an dem, was ich tue. Ich bin ein Feldkommandant, kein Bürohengst. In einer Woche erwartet man mich in Rutog zur Lösung eines anderen Problems.« Das war ein Bezirk im äußersten Westen von Tibet, dessen hohe Zahl von Gefängnissen und Internierungslagern es sogar mit der von Lhadrung aufnehmen konnte. »Da hat sich mal wieder irgendein verfluchter Mönch angezündet. Eindeutlicher Hinweis darauf, dass es den örtlichen Behörden an Durchsetzungsvermögen mangelt.« Dabei sah er Meng an, die seinem Blick auswich. »Mir bleibt nicht viel Zeit. Sagen wir, sechs Tage.«
»Was die Spurenuntersuchung angeht, habe ich um Hilfe aus Lhasa ersucht«, sagte Meng. »Aber man …«
Liang hob eine Hand und ließ sie verstummen. »Ich bin mir nur zu bewusst, wie unzureichend Sie hier die Auswertung von Beweisen beherrschen, Leutnant. Ganz gleich, wie viel Zeit wir Ihnen einräumen, Sie werden einfach Ihre Untersuchung beenden und erklären, es gäbe nicht genug, um weiterzumachen.« Liang blies zwei Rauchschwaden aus den Nasenlöchern. »Die Morde wurden von einem tibetischen Lama namens Jamyang verübt. Einem Abtrünnigen, der allein in den Bergen lebt und nach Möglichkeiten sucht, die Sache der Revisionisten zu befördern.«
Shan konnte sich nicht überwinden, Liang in die Augen zu sehen. Er sprach mit Blick auf den Aschenbecher voller zerdrückter Zigarettenstummel neben Liangs Ellbogen. »Die Morde waren keine politische Verlautbarung.«
»Dann verschwenden Sie meine Zeit. Leutnant Meng hat behauptet, Sie würden sich mit den Tibetern auskennen.« Der Major griff hinter seinen Stuhl in eine offene Aktentasche und legte einen Stein auf den Tisch. »Sagen Sie mir, was das ist.«
Shan biss die Zähne zusammen. Das war der Stein, der im Kloster die Hände der Toten am Boden gehalten hatte. »Ein altes, verwittertes Stück Fels.«
»Sagen Sie mir, was das ist!«, wiederholte Liang, und jedes einzelne Wort klang wie ein Gewehrschuss.
»Ein Zierstein, vermutlich von einem alten Tempel oder Schrein.«
»Sie sind wirklich zu nichts nütze, Meng«, fuhr Liang sie an. »Sie lassen mich meine Zeit mit diesem …«
»Ein eingemeißeltes heiliges Symbol«, warf Shan ein.
Liang nickte langsam. Shan erkannte, dass der
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