Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
konnte. Die Jadekrähen hatten zwei Leichen gestohlen. Die Kriecher hatten heimlich den dritten Toten, den Ausländer, verschwinden lassen, aber seine amerikanische Begleiterin blieb verschollen. Shan biss die Zähne zusammen, um sich die jähe Erkenntnis nicht anmerken zu lassen. Liang konnte mit den Morden auf verschiedene Weise umgehen. Doch ganz gleich, für welchen Weg er sich entschied, die Amerikanerin stellte weiterhin eine direkte Bedrohung dar.
»Falls es natürlich noch offene Fragen gäbe, etwa wegen eventueller Mitverschwörer …« Shan zuckte die Achseln und senkte die Stimme. »Dann sollten Sie sich vielleicht nach Norden wenden.«
»Norden?«
»Jeder an dieser Schweinerei beteiligte Ausländer würde wissen, dass er von hier verschwinden muss, und zwar so schnell und so weit weg wie möglich. Da läge für die meisten die Annahmenahe, dass der Betreffende sich zur nächstgelegenen Grenze wenden würde, also nach Süden. Und genau aus diesem Grund würde jemand, der schnell und vor allem unauffällig weg will, den Zug nehmen«, erklärte Shan. »Niemand würde damit rechnen, dass ein Ausländer tiefer ins chinesische Landesinnere flieht. Die Armee patrouilliert entlang der Bahnstrecke zum Schutz vor Saboteuren, aber an Bord des Zuges herrschen angeblich nur lockere Sicherheitsvorkehrungen. Es gibt Geschichten über blinde Passagiere. Und mit dem richtigen Papier könnte man sich auch direkt durchs Tor bluffen.«
»Papier?«
»Sagen wir, ein großer Geldschein und ein amerikanischer Pass.«
Liang beugte sich vor. Shan hatte seine Aufmerksamkeit.
»Am schwierigsten für einen Ausländer wäre es, den Bahnhof in Lhasa zu erreichen. Die Straße dorthin führt quer durch den Bezirk Lhadrung, und Oberst Tan hat auf ihr feste Kontrollpunkte eingerichtet. Die einzige sichere Möglichkeit wäre, die Straßensperren im Schutz der Nacht zu umgehen. Doch das verlängert die Reise um zwei oder drei Tage. Der theoretische Mitverschwörer würde also morgen oder übermorgen Abend in Golmud eintreffen.« Das war der nördliche Endpunkt der Bahnstrecke. »Theoretisch jedenfalls«, wiederholte Shan. Es war ein verlockender Köder, wusste er. Die Bewaffnete Volkspolizei war für die Sicherheit an Bord des Zuges zuständig, nicht die Kriecher. Falls ein Flüchtiger auf diesem Weg entwischte, würde also eine andere Regierungsbehörde verantwortlich sein. »Andererseits ist es vielleicht am besten, einen beteiligten Ausländer einfach gehen zu lassen. Falls er sich illegal im Land aufhält, wird auch niemand nach ihm fragen. Da kann man doch froh sein, ihn loszuwerden, oder?«
Liang nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, runzelte die Stirn, drückte die Zigarette aus und stand in einer Rauchwolke vom Tisch auf. Als Shan ihm hinterherschaute, wie er den Raum verließ, kam ihm eine neue Frage in den Sinn: Woher hatte Liang Jamyangs Namen gekannt?
Shan wandte den Kopf und bemerkte, dass Meng ihn ansah. Sie griff nach Liangs Akte und klappte mit einem Finger den Deckel auf. Das Passfoto war blass und körnig, denn es war mehrmals gefaxt und eingescannt worden, doch Shan wusste nun endlich, wie das Phantom aussah, das er suchte. Die Frau hatte ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und starkem Kinn. Vermisste Person lautete die englische Überschrift. Unter dem Foto stand der Name Cora Michener. Die Suchanzeige stammte von der amerikanischen Botschaft.
***
Die tausend Stufen, denen die Einsiedelei der Nonnen ihren Namen verdankte, waren nach Jahrhunderten des Gebrauchs abgenutzt und ausgehöhlt. Shan hatte die Hälfte der langen Treppe erklommen, als er schwer atmend eine Pause einlegte und die kleine Anlage in Augenschein nahm. Die alten Bauten klebten an der steilen Hügelflanke, als wären sie ein Teil des Berges. Der schmale Turm und die schrägen Mauern des äußersten Gebäudes hingen an der Kante einer Klippe, was darauf hindeutete, dass dies ursprünglich ein dzong gewesen war, eine der kleinen Bergfestungen, die es einst überall in Tibet gegeben hatte.
Shan hatte seinen Pick-up weit unten außer Sicht abgestellt, um die Nonnen nicht zu ängstigen, und während er sich den Gebäuden näherte, blieb er bei jedem der kleinen Schreine stehen, die man entlang des letzten Teilstücks der Stufen errichtet hatte, und rezitierte gemäß der Tradition ein Mantra.
Doch seine Gebete wurden nicht erhört. Die erste Nonne, die ihn erblickte, kniete gerade mit einem Eimer Wasser über einigen Pflanzen am
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