Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Rand des Innenhofs. Sie stand erschrocken auf, wich zurück, drehte sich dann um und rannte um die Ecke des nächstgelegenen Gebäudes. Shan blieb stehen und widerstand dem Impuls, ihr zu folgen. Dies war eine Einsiedelei, in der die Nonnen gelobten, jeden Tag stundenlang zu meditieren oder Mantras aufzusagen, und das manchmal für Wochen oder gar Monate am Stück. Shan wollte nicht derjenige sein, der eine solche ehrerbietige Handlung störte. Er ging zu dem kleinen Gartenstück, nahm die Schöpfkelle aus dem Eimer und fuhr fort, die Pflanzen zu wässern. Als er fertig war, spürte er bereits unsichtbare Blicke auf sich ruhen. Er ließ sich mit übergeschlagenen Beinen vor dem kleinen chorten in der Mitte des Hofs nieder und streckte die rechte Hand nach unten zum sogenannten mudra der Erdberührung aus, einem traditionellen Handgebet, das die Erde zur Bezeugung des Glaubens anrief. Aus dem Augenwinkel registrierte er auf einem Pfad weiter oben am Hang eine Bewegung. Mehrere Nonnen eilten davon. Sie flohen vor ihm.
Mehr als eine Viertelstunde verstrich, bis eine Frau mittleren Alters mit kurzgeschorenem Haar am Sockel des alten Turms erschien und Shan kühl abschätzte, bevor sie näher kam.
»Du bist der Chinese, der Jamyang geholfen hat«, verkündete sie. Ihre Stimme klang nicht einladend. Eine weitere Frau näherte sich, blieb aber ein Stück zurück, als wäre sie ein Faktotum der Nonne. Shan erkannte Chenmo, die junge dropka , die von der Äbtissin aufgezogen worden war. Aus dem Turm kamen noch drei Gestalten in Gewändern zum Vorschein und folgten ihr verunsichert.
»Ich war ein Schüler zu Füßen des Lama«, erwiderte er. Dann hielt er inne und konnte seine Überraschung nicht verbergen. Die drei anderen Personen waren Mönche.
»Du bist der Chinese, der sich in den Ruinen am verstümmelten Leichnam unserer Äbtissin geweidet hat.«
Shans Hand sackte herab und gab das mudra auf. Das war nicht die freundliche Begrüßung, die er sich erhofft hatte. Er stand auf und zog seine Kleidung zurecht. »Ich war lediglich der Erste, der ihren Tod beklagt hat. Ich habe ihre Augen geschlossen.«
»Du hast ihr gau gestohlen.«
Etwas in Shan zog sich zusammen. Nonnen und Mönche hatten ihn sonst stets willkommen geheißen. »Die Öffentliche Sicherheit öffnet derartige Amulette, fotografiert sie und katalogisiert den Inhalt. Und oft stößt sie dabei auf Hinweise, die zu Ermittlungen gegen die Freunde und Angehörigen des Besitzers führen.«
Die Nonne starrte ihn wütend an. Sie schien Shan am liebsten die Treppe hinunterstoßen zu wollen. Der älteste der Mönche, ein Mann Ende vierzig, trat vor, als wolle er einschreiten. Seine Stimme war ruhiger, beinahe freundlich, und sein Gesicht war stark und intelligent. »Es gibt Geschichten über einen weißhaarigen Onkel, der wie ein uralter Yak durch die oberen Täler zieht. Man sagt, er habe einen chinesischen Begleiter.« Der Mönch trug einen blassgelben Gürtel locker um sein Gewand. Daran hing ein verzierter Federkasten, seit jeher ein Zeichen für einen tibetischen Lehrer.
Shan lächelte. »Ich habe von diesem alten Yak viel gelernt.«
»Ich habe gehört, die beiden stehen bisweilen schlammbespritzt in Gräben.«
»Lokesh sagt, Gräben zu säubern sei eine läuternde Tätigkeit. Er sagt, die Magie der Erdgötter fange mit Erde und Wasser an.«
Der Mönch wandte sich an die Nonne, die Shan noch immer mit kühler Missbilligung musterte. »Wir können doch gemeinsam einen Tee trinken, Mutter«, sagte der Mönch.
Die Nonne bewegte nur eine Hand und gab Chenmo ein Zeichen. Die junge Novizin lief zu einer Tür, vor der eine Kohlenpfanne stand, und verschwand im Innern.
»Mein Name ist Shan«, sagte er.
»Und ich heiße Trisong Norbu.«
Shan war überrascht. Er kannte den Namen. »Abt Norbu.« Er neigte leicht den Kopf. Was machte der Abt von Chegar gompa in dieser entlegenen Einsiedelei?
Der Abt schien Shans Gedanken gelesen zu haben. »Du und ich mögen unterschiedliche Fragen haben, aber ich glaube, wir suchen vielleicht nach den gleichen Antworten. Das Tal wird keinen Frieden mehr finden, solange diese schrecklichen Todesfälle nicht geklärt sind.« Norbu deutete auf einige Hocker in einer sonnenbeschienenen Ecke des kleinen Hofs, von dem sich ein Ausblick über zerklüftete Bergketten und von Blumen gerötete Hänge bot. Die Nonne und widerwillige Gastgeberin setzte sich wortlos zu ihnen. Eine andere Nonne erschien und fing an, eine schwere Gebetsmühle
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