Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Major ihn getestet hatte. Liang nahm den Stein und starrte ihn durchdringend an, als würden sich ihm dadurch alle finsteren Geheimnisse des Tals erschließen. »Dieser Mörder hat komplexe Überlegungen angestellt, Genosse. Angefangen mit der Inszenierung als vermeintliches Werk eines Dissidenten, zwei tote Männer auf einer chinesischen Flagge, ihre Stiefel auf einer Tibeterin. Da würde jeder doch sofort an einen Abweichler denken. Doch dann hat er gerade genug Spuren hinterlassen, um die Frau als Nonne zu identifizieren. Damit schied ein Tibeter als Täter aus. Also müssten wir nach einem wahnsinnigen chinesischen Killer suchen, Genosse. Wäre da nicht …« Liang sah nun Shan an. »Wäre da nicht dieser Stein. Der Täter konnte der Versuchung nicht widerstehen, als wolle er insgeheim ein wenig prahlen. Die Polizei würde es nie begreifen. Es ist zu subtil. Er konnte es sich nicht verkneifen, er musste sich ausgerechnet diesen Stein aussuchen. Wussten Sie, dass es im rückwärtigen Teil des Klosters ein altes Gebäude gibt, dessen Boden mit Fragmenten wie diesem bedeckt ist? Er ist den ganzen Weg bis dahinten gegangen, nur um diesen Stein zu holen. Nicht irgendeinen Stein. Weshalb diesen Stein, Genosse Shan?«
Shan hatte bei dem seltsamen Spiel, das Liang hier spielte, beileibe kein gutes Gefühl. »Es ist eines der acht Glückszeichen.«
»Welches genau?«
Shan zögerte. »Das Siegesbanner. Um den Triumph der buddhistischen Weisheit über die Ignoranz zu feiern.«
Liang lächelte matt. Er hatte es bereits gewusst, davon war Shan überzeugt. Er musste einräumen, dass der Major das Rätsel dieser Morde zumindest richtig erkannt hatte. Kein Tibeter würde jemals die Äbtissin töten. Kein Chinese würde jemals den Bannerstein hinterlassen.
»Und außer Ihnen gibt es im Umkreis von zweihundert Kilometern vermutlich nicht einen einzigen Chinesen, der das weiß. Dieses Zeichen war für die Tibeter bestimmt. Der Mörder war ein Tibeter. Sie haben mir immer noch nichts von diesem abtrünnigen Lama erzählt. Diesem Revisionisten Jamyang, der wie ein Gesetzloser in unseren Bergen lebt. Diesem Feind unseres Mutterlandes. Wir hätten schon vor dieser Tragödie ein stattliches Kopfgeld für ihn bezahlt.«
Der Major sah unverwandt Shan an. Was er über die Morde gesagt hatte, war noch nicht offiziell. Liang überprüfte seine Theorie. Shan erwiderte den Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Jamyang ist tot.«
»Sie scheinen sich da sehr sicher zu sein, Genosse.«
»Er ist tot.«
Liang schwieg für einen langen Moment. »Wie günstig für ihn«, sagte er dann.
»Ich bezweifle, dass er das ebenso gesehen hat.« Shan löste sich aus der Umklammerung von Liangs Blick und schaute den Scheinwerfern eines vorbeifahrenden Lastwagens hinterher. Ihm wurde schlagartig eine weitere Gefahr bewusst. Falls Oberst Tan nun zur Tür hereinkäme, während Shan der Öffentlichen Sicherheit Geheimnisse entlockte, würde er noch am selben Tag wieder in einem von Tans Gefängnissen landen.
»Ich will seinen Leichnam.«
Shan zuckte die Achseln. »In diesem Tal neigen Leichen zum Verschwinden. Es heißt, die Körper mancher Lamas würden auf einem Regenbogen gen Himmel emporgehoben werden. Die Wege der tibetischen Götter sind wahrhaft unergründlich.«
Das Feuer in Liangs Augen loderte auf. »Ich weiß bereits, wer die Götter in diesem Tal sind. Muss ich Ihnen das etwa beibringen wie einem beliebigen halsstarrigen Tibeter?«
Shan schaute zu Meng, die nervös auf ihre verschränktenHände blickte, und dann wieder zum Fenster hinaus, diesmal zu dem hohen Gebirgsgrat oberhalb der Stadt. Vor seinem inneren Auge stieg der vertraute Anblick von Jamyang auf, wie er voller Freude einige jüngst erblühte Frühlingsblumen entdeckte. Der Lama hätte gelacht, wenn man ihm erzählt hätte, sein Tod könne dazu beitragen, das Tal von einem Mann wie Liang zu befreien.
»Es besteht kein Anlass für Sie, Ihren Auftrag in Rutog zu vernachlässigen, Major«, sagte Shan. »Der von der Öffentlichen Sicherheit ermittelte Mörder ist tot. Fall abgeschlossen. Wieder einmal hat politische Zwietracht zu einer Tragödie geführt.« Das war genau das gleichnishafte Ende, das Peking stets bevorzugte.
Liangs Lippen verzogen sich zu einem dünnen, frostigen Lächeln. Er betrachtete Shan, als versuche er sich darüber klar zu werden, ob Shan sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Sie wussten beide, dass der Major noch aus einem anderen Grund nicht abreisen
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