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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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zu drehen, die an der gegenüberliegenden Wand befestigt war. Dabei behielt sie Shan argwöhnisch im Blick.
    »Die Leute im Tal sagen, wir seien ihre Anker«, erklärte Norbu. »Mein Chegar am Kopf des Tals und dieses Kloster an seinem Fuß. Verzeihung, diese Einsiedelei. Unsere geliebte Äbtissin hat uns oft ermahnt, dass dieser Ort nur ein Außenposten des alten Klosters war, ein Zufluchtsort für Nonnen, die die Abgeschiedenheit suchten. Sie sagte, das Kloster sei es gewesen, das diesem Ort seine Bedeutung verlieh.«
    »Was auch der Grund dafür war, dass sie versucht hat, das alte Kloster wieder mit Leben zu erfüllen«, sagte Shan. Er schaute zu den anderen beiden Mönchen, die ihren Abt wie getreue Diener nicht aus den Augen ließen. »Doch warum gerade jetzt, nach all den Jahren?« Auf diese Frage war er bisher noch gar nicht gekommen.
    »Sie hat es als ihre heilige Pflicht angesehen«, erwiderte Norbu und nickte Chenmo zu, die den Tee brachte.
    »Obwohl der Wiederaufbau nicht genehmigt worden war«, mutmaßte Shan.
    Der Abt hielt inne und musterte Shan, als versuche er zu ergründen, ob die Worte als Warnung gedacht waren. Er lächelte matt und wies auf seine Gehilfen. »Dakpo, Trinle und ich müssen uns mit Bergen von Formularen des Büros für Religiöse Angelegenheiten herumschlagen. Es gibt leider kein Anforderungsformular für Hoffnung und Glauben. Unser Tal ist ein besonderer Ort und entlegen genug, dass wir Traditionen hier länger bewahren können als in anderen Teilen von Tibet. Die Regierung scheint uns das nicht zu gönnen. Angesichts der neuen Stadt und des neuen Umsiedlungslagers haben die Äbtissin und ich uns gedacht, es wäre an der Zeit, das Kloster auferstehen zu lassen.«
    Shan trank einen Schluck Tee und dachte nicht nur über Norbus Worte nach, sondern auch über seinen umsichtigen Tonfall. Als Abt ein Kloster in Tibet zu leiten war wie die Fahrt durch ein Minenfeld. Die Bewohner des gompa und alle Gläubigen der näheren Umgebung erwarteten geistige Führung von solch einem Mann. Peking hingegen erwartete politische Führung. Norbu war sich zweifellos schmerzlich bewusst, dass viele Äbte, die Peking den Kotau verweigert hatten, ihrer Posten und oft auch ihrer Gewänder enthoben worden waren. Shan nickte respektvoll und leerte seine Tasse.
    Chenmo schenkte ihnen Tee nach, und die Männer plauderten ein wenig, wie Freunde es tun würden – über das Wetter, über die Lämmergeier, die anmutig am Himmel schwebten, und über den wahrscheinlichen Ursprung der kleinen Einsiedelei als eine von Bogenschützen bemannte Festung.
    »Du sprichst besser Tibetisch als jeder Chinese, den ich je kennengelernt habe«, stellte der Abt fest.
    »Ich habe einige Jahre in ausschließlich tibetischer Gesellschaft verbracht«, entgegnete Shan. »Als einziger Chinese mit zwanzig Tibetern in derselben Baracke.«
    Norbu sah ihn mit neuerlichem Interesse an. »In Lhadrung?«
    »Bei der 404. Baubrigade des Volkes.«
    Norbu nickte ernst. Der Mann des Glaubens war auch in weltlichen Dingen bewandert. Er schwieg eine Weile und trank seinen Tee. »Für einen ehemaligen chinesischen Sträfling kann das Leben in Tibet sehr schwierig sein«, sagte er dann.
    »Für einen tibetischen Abt in Tibet aber auch«, gab Shan zurück.
    Norbu lächelte mild.
    »Ich hatte einen Traum«, rief plötzlich Dakpo aus, der jüngere der beiden Begleiter. »Einen Albtraum, um genau zu sein. Die Geister von Äbtissin Tomo und Jamyang waren in einer tiefen Grube und konnten sich nicht aus ihr befreien. Sie waren blind. Und sie haben geweint und mich um Hilfe gebeten.«
    Einen Moment lang sah Shan Schmerz im Blick des Abtes. Als Norbu sprach, klang er bekümmert. »Die Nonnen haben große Angst. Meine Mönche ebenfalls. Ich kann diese Dinge, diese brutalen Morde nicht verstehen. So etwas ist nicht Teil unserer Welt.«
    »Es ist nicht Teil der Welt, die wir uns wünschen würden«, sagte Shan. »Und diese Morde ergeben keinen Sinn.«
    »Wie meinst du das?«
    »Es gibt Leute, die sind dafür ausgebildet, derartige Taten zu ergründen. Sie suchen nach Motiven, nach Mustern, nach Spuren dessen, was geschehen ist. Aber es hängt alles vom Motiv ab. Es könnte zum Beispiel Leute geben, die Anlass für den Mord an einem Ausländer haben. Es könnte Gründe geben, den Anführer einer Verbrecherbande zu töten. Und es sind sogarMotive denkbar, aus denen jemand eine Äbtissin umbringen würde. Wenn man jedes Opfer für sich betrachtet, könnte die

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