Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Polizei eine Liste von Verdächtigen erstellen. Aber die Listen wären völlig verschieden. Es gibt nichts, das die drei Opfer verbindet. Es ist, als würde es sich um drei unterschiedliche Morde handeln, die bloß am selben Ort stattgefunden haben.«
Norbu griff nach der Gebetskette an seinem Gürtel. »Wenn ein Mann von einem Dämon befallen wird, gibt es womöglich kein Motiv, sondern nur den Dämon«, sagte er mit traurigem Blick und seufzte. »Aber die Behörden werden es nicht so sehen. Sie werden ein Motiv verkünden, damit sie jemanden verhaften können.« Er sah Shan an.
Shan wusste nichts zu sagen.
Dakpo schüttelte mehrmals den Kopf. »Und wie soll ich Jamyang und der Äbtissin die Wahrheit mitteilen, wenn sie das nächste Mal zu mir kommen?«, fragte er verzweifelt. »Wie soll ich ihnen beibringen, dass sie auf ewig blind und verängstigt umherwandern müssen?«
Der Abt ließ kurz den Kopf hängen. »Ich möchte weinen«, sagte er auf Chinesisch, als seien die Worte nur für Shan bestimmt, »aber ich bin der Abt.« Nach einem Moment öffnete er wieder den Mund, schüttelte dann aber nur den Kopf, als wäre das Sprechen eine zu große Last geworden. Er nahm seine Gebetskette und flüsterte ein Mantra.
Shan stand auf, ging im Hof umher und ließ den Blick erneut über die hohen Hänge schweifen. Ein Dämon war entfesselt und Lokesh ohne Schutz. Die Kriecher suchten nach der Amerikanerin, und Shans versuchte Irreführung Liangs würde ihr höchstens ein oder zwei Tage erkaufen. Wenn der Major sich wieder auf das Tal konzentrierte, würde er seine ausgehungertsten Hunde von der Leine lassen.
Als Shan sich umdrehte, sah er den Abt leise mit Chenmo sprechen. Norbu berührte sein gau , als würde er die Frau segnen,nickte Shan dann zum Abschied zu und machte sich mit Dakpo und Trinle an seiner Seite langsam an den steilen Abstieg, der von der Einsiedelei ins Tal führte. Ein schweres Gewicht schien sich auf seine Schultern gelegt zu haben.
Auch Chenmo war das nicht entgangen. »Seit seiner Ankunft vor einem Jahr ist aus ihm ein in diesem Tal innig geliebter Mann geworden«, sagte sie mit hörbar großer Sorge. »Er hat eine silberne Drachenglocke mitgebracht, die einst jahrhundertelang dem Kloster gehört hatte, bis die Regierung sie wegnahm. Es ist ihm gelungen, irgendein Museum davon zu überzeugen, sie den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn die Behörden zu viel Druck ausüben, obwohl er weiß, dass der letzte Abt ins Gefängnis geschickt wurde. Was mit der Äbtissin geschehen ist, macht ihm sehr zu schaffen. Er befürchtet, die Regierung wird es als Vorwand benutzen, um noch mehr Tibeter einzusperren. Er bleibt bis weit in die Nacht auf und betet für Mutter Tomo, betet für Gerechtigkeit. Ein Mann wie er ist für das Überleben dieses Tals wichtig. Aber man hört jetzt immer öfter, er könnte verhaftet werden. Falls der Zorn der Regierung zu einem Sturm anwächst, wird Abt Norbu der Blitzableiter sein.« Die Novizin blickte unverwandt die Treppe hinunter, während die Gewänder des Abtes und seiner Gefährten mit den Schatten verschmolzen.
»Die Amerikanerin ist in großer Gefahr«, sagte Shan leise. »Sie muss gewarnt werden. Sie muss versteckt werden.«
»Sie ist nicht hier«, erwiderte Chenmo. »Sie …«
»Genug!« Die strenge Nonne, die ihn empfangen hatte, trat aus dem Hintergrund hervor und deutete auf den Turm. Chenmo eilte mit gesenktem Kopf an Shan vorbei, warf aber zuvor einen langen Blick auf den Hang oberhalb der Einsiedelei, zu einer der kleinen Steinhütten, die von Eremiten und für Exerzitien genutzt wurden. Die Nonne stellte sich zwischenShan und den Turm, als wolle sie jeden Versuch unterbinden, der Novizin zu folgen.
»Sie werden kommen und nach der Amerikanerin suchen«, teilte Shan ihr mit. »Sie werden Verhöre durchführen. Und überaus grobe Durchsuchungen. Sind alle hier registriert? Könnt ihr belegen, dass alle einen Treueid abgelegt haben?«
»Die Worte eines wahren Patrioten aus Peking.«
»Die Worte eines Mannes, der verhindern möchte, dass die Nonnen der Tausend Stufen noch mehr leiden müssen«, gab Shan zurück. »Die Kriecher wissen vermutlich bereits, dass die Äbtissin die Restaurierung des Klosters koordiniert hat. Sie wissen von den Ausländern. Sie werden es nicht für möglich halten, dass die Ausländer insgeheim die Klosterruinen besucht haben könnten, ohne dass die Äbtissin davon gewusst
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