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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hat.«
    »Ich vermag nicht zu sagen, welches Wissen die Äbtissin mit ins Grab genommen hat.«
    »Ich habe einst in einer Einsiedelei gelebt, Äbtissin. Unter den Mönchen gab es keine Geheimnisse. Es war wie eine große Familie.«
    »Ich trage keinen Wedel«, berichtigte die Nonne ihn und bezog sich damit auf den Wedel aus Yakhaar, der das traditionelle Amtszeichen für Äbte und Äbtissinnen war. »Die neue Äbtissin, Ani Ama, wurde weggerufen. Während ihrer Abwesenheit bin ich für die anderen verantwortlich.« Die Nonne verstummte, während ein Dutzend andere aus diversen Bauten zum Vorschein kamen und ein kleines Gebäude betraten, dessen Eingang von Gebetsmühlen flankiert wurde. Auf dem Turm erschien ebenfalls eine Nonne und läutete eine Handglocke.
    »Falls sie kommen, was wird geschehen?«, fragte die Leiterin flüsternd.
    »Sie werden euch voneinander trennen und jede einzeln verhören. Die Kriecher werden es darauf anlegen, Zwietracht zusäen und euch gegeneinander auszuspielen. Zuerst kommen die an die Reihe, die keinen schriftlichen Nachweis für ihren Treueid haben. Wer keinen Eid unterzeichnet hat, respektiert Peking nicht. Eine Tibeterin, die Peking nicht respektiert, ist eine Revisionistin. Eine Revisionistin ist eine Verräterin. Verräterinnen haben keine Rechte. Dafür kommt man normalerweise ins Gefängnis und darf sich nie wieder als Nonne registrieren lassen. Aber du kannst der Bestrafung entgehen, wenn du einfach nur von den subversiven Machenschaften der Äbtissin erzählst oder die Namen der Verräter nennst, die die Amerikanerin versteckt haben.
    Falls das nicht funktioniert, werden sie mit denjenigen unter euch sprechen, die aus schlechten Familien kommen, also von Kaufleuten und Landbesitzern abstammen, deren Akten von den Politoffizieren jederzeit wieder eröffnet werden können. Und wenn alle Stricke reißen, werden sie herausfinden, wer Fotos des Dalai Lama versteckt hat, und das als Druckmittel benutzen. Dies sind unruhige Zeiten in Tibet. Die örtlichen Strafverfolgungsbehörden können nahezu ungehindert agieren und eigenmächtig Strafen verhängen. Sie brauchen bloß die Worte ›Dalai Lama‹ und ›Revisionistin‹ zu rufen, und dein Leben ist ruiniert. Falls es den Kriechern beliebt, können sie morgens hier eintreffen und bis Mittag sind alle von hier weggeschafft und werden sich nie wiedersehen.«
    In die trostlose Miene der Frau stahl sich ein Anflug von Trotz. Shan konnte erkennen, dass sie eine khampa war – aus der alten tibetischen Provinz Kham, in der sowohl die Männer als auch die Frauen einst furchtlose Krieger gewesen waren. »Falls sie kommen«, sagte sie.
    »Nicht falls, Mutter«, widersprach Shan. »Nur wann.«
    »Aber du bist nicht hergekommen, um uns zu warnen.«
    Shan blickte erneut hinaus über die Berge. Er war sich keineswegs sicher, dass der Pfad, nach dem er suchte, wenigerschmerzvoll für die Nonnen sein würde. »Die einzige Möglichkeit, den Lauf der Dinge zu verändern, ist die Ergründung der Wahrheit.«
    »Wir kennen die Chinesen und ihre Wahrheiten. Als Beleg können wir fünfzig Jahre Leid vorweisen.«
    »Im Gefängnis hatte ich einen Lehrer. Einen Lama, der geholfen hatte, den Dalai Lama auszubilden, als der noch ein Junge war. Er sagte, der Grund dafür, dass die Tibeter in ihren Herzen frei blieben, sei ihre Gewissheit, dass die Wahrheit stärker ist als jedes Gesetz, jedes Gefängnis und jede Armee.« Der Zorn im Blick der Nonne begann sich zu legen. »Warum könnte die Äbtissin sich in Gegenwart eines chinesischen Bandenführers befunden haben?«, fragte Shan abrupt.
    Die Nonne blickte verwirrt in ihre verschränkten Hände. »Ich muss die Gebete leiten«, sagte sie, drehte sich um und eilte in die Kapelle.
    Shan folgte ihr und setzte sich im Lotussitz vor die Rückwand der kleinen Kammer. Das einzige Licht fiel durch die offene Tür herein oder stammte von den Butterlampen, die auf dem Altar unter einem kleinen Bronzebuddha flackerten. Als die Mantras begannen, schloss Shan die Augen und versuchte, die nagende Furcht zu verdrängen. Der leise Chor der Nonnen war wie Balsam für seinen geschundenen Geist. Er ertappte sich dabei, wie er anfing, die vertrauten Worte mit den Lippen zu formen. Dann gesellte seine Stimme sich zu den anderen.
    Als die Nonnen hinausgingen, rührte er sich nicht von der Stelle, sondern prüfte ihre verängstigten Gesichter. Keine der Frauen sah ihn an. Nur die Leiterin blieb in der Kapelle und füllte die

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