Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Weihrauchfässer auf dem Altar nach, bevor sie sich zu Shan umdrehte.
»Vor einigen Monaten sind zum ersten Mal Chinesen bei den entlegenen Lagern und Höfen aufgetaucht, ganz oben auf den Hängen«, verkündete sie plötzlich. »Sie haben die Leutemit Stöcken geschlagen, ihre Werkzeuge zerbrochen, gestohlen, was immer sie wollten, und manchmal das Viehfutter verbrannt. Es schien ihnen weniger ums Plündern zu gehen, denn diese Leute haben so gut wie nichts Wertvolles besessen. Eher darum, die Menschen zu vertreiben. Sie haben jedes Mal eine schwarze Feder zurückgelassen. Chinesen, aber nicht in Uniform. Kleiner und dunkler als die meisten in dieser Pionierstadt. Als wir hörten, dass sie tätowiert sind, haben wir sie für flüchtige Sträflinge gehalten. Die Äbtissin ist zu einem der tibetischen Polizisten gegangen, um es zu melden. Der Mann sagte, er könne nichts tun, das sei eine Angelegenheit dieser Bewaffneten Volkspolizei.«
»Du willst sagen, die chinesische Bande aus Baiyun hat diese Überfälle begangen.«
»Du hast Abt Norbu doch gehört. Das Kloster und Chegar gompa waren jahrhundertelang die beiden Anker des Tals, einer an jedem Ende, und haben für Ruhe und Frieden gesorgt. Es war stets die Pflicht des Abtes und der Äbtissin, über die Sorgen der Menschen Bescheid zu wissen und Möglichkeiten zur Linderung zu finden. Nach der Zerstörung des Klosters kamen die wenigen überlebenden Nonnen hierher, und die Leiterin der Einsiedelei wurde zur Äbtissin. Wir sind für die Menschen des Tals verantwortlich. Wenn eine Bauernfamilie im Herbst krank wird, gehen wir Nonnen aufs Feld und ernten die Gerste für sie.«
»Und deshalb hat sie ein Treffen mit dem Anführer der Bande vereinbart. Lung Ma.«
»Sie ist einfach zu dem alten Hof gegangen, auf dem die hausen. Zusammen mit der ältesten unserer Nonnen, Ani Ama. Die Äbtissin hat die Tür aufgestoßen und ist die Treppe zu ihrem Anführer hinaufgestiegen. Ani Ama hat erzählt, seine Männer hätten gelacht, aber er nicht. Er schien beunruhigt zu sein, sie zu sehen. Er hat nur zugehört, während sieihn zurechtgewiesen und verlangt hat, er solle unsere Leute in Ruhe lassen. Manche seiner Männer haben Messer gezogen, aber er hat ihnen einen strengen Befehl erteilt, und sie haben die Waffen gesenkt.«
»Und das war kurz vor ihrer Ermordung?«
»Nein. Vor vielen Wochen. Vor zwei oder drei Monaten. Letzten Monat ist er dann zu ihr gekommen. Den ganzen Weg die Stufen hoch, und als er hier oben ankam, war er völlig außer Atem.«
»Um mit ihr zum Kloster zu gehen.«
»Nein. Das war später. Er ist wegen seines toten Sohnes gekommen.«
Shan blickte überrascht auf. »Der Sohn des Bandenführers ist gestorben?«
Die Nonne nickte. »Bei einem Verkehrsunfall. Er wollte, dass sie den Leichnam nach altem Brauch herrichten würde.«
»Die Jadekrähen hatten sie mit Messern bedroht, und sie ist trotzdem mitgegangen?«
»Aber natürlich. Es ging doch um den toten Jungen. Sein Vater war ein anderer Mann, zutiefst erschüttert. Danach haben all diese Überfälle aufgehört.«
Shan überlegte. »Also ist sie ihm dieses eine Mal nach Hause gefolgt«, sagte er. »Und später ist er wiederum ihr zu dem Kloster gefolgt, wo beide umgebracht wurden.«
Die Nonne schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Sie ist nicht wegen Lung zum Kloster gegangen und Lung auch nicht wegen ihr. Sie gingen beide wegen Jamyang. Jamyang hat zu ihr gesagt, ein Dämon sei aus der Erde gekrochen und müsse vernichtet werden.«
KAPITEL SIEBEN
Auf halbem Weg die ausgetretenen Steinstufen hinunter wich Shan seitlich auf den steilen Hang voller Felsvorsprünge aus. Im Schutz der Felsen bewegte er sich dann langsam wieder bergauf und hoffte, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Er konnte sich nicht sicher sein, dass Chenmo ihm tatsächlich einen Hinweis auf die kleine Meditationsklause oberhalb des Geländes gegeben hatte, und war sogar noch unschlüssiger, als er sie erreichte.
Die Hütte war menschenleer und besaß keinerlei Mobiliar außer zwei mit Stroh gestopfte Schlaflager, zwei abgenutzte Kissen, einen niedrigen Hocker und einen Eimer. An der Wand hing ein zehn Jahre alter Touristenkalender mit einem Hochglanzfoto des Kailas, des heiligsten aller Pilgerberge. Shan stand im Eingang der baufälligen, windschiefen Hütte und schaute schon wieder zu den höheren Hängen empor. Er erkannte, dass es ihm nicht gelingen würde, sich auf die Morde zu konzentrieren, solange Lokesh verschollen
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