Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
blieb.
Eine Windbö ließ die Tür in ihren hölzernen Angeln rattern und zerrte dann an einer Schnur mit Gebetsfahnen, die an der Ecke des Gebäudes an einem Nagel festgebunden war. Der größte Teil der Leine war leer. Nur ein halbes Dutzend Fahnen blieb und flatterte nun für einen Moment im Wind. Vier der Fahnen bestanden aus verblichener Baumwolle, die letzten beiden hingegen aus einem leuchtend roten Material, was zudem nicht dem herkömmlichen Farbmuster entsprach.
Shan packte die Schnur und holte die roten Fahnen ein. Sie waren mit dem üblichen tibetischen mani -Mantra beschriftet, der Anrufung des Mitfühlenden Buddhas. Doch auf der Rückseite stand das gleiche Mantra und zwar offenbar mit einem Kugelschreiber geschrieben: Om mani padme hum . Das Material war Nylon und an den Kanten mit schmalen Streifen Heftpflaster eingefasst. Jemand hatte einen Anorak oder ein Zelt zerschnitten und daraus Gebetsfahnen gefertigt.
Mit neuerlicher Entschlossenheit betrat Shan die Hütte und fing an, sie systematisch zu durchsuchen, hob die Schlaflager und die kleinen Beutel aus Yakfilz an, die mit einer Füllung aus Schaffell als Kissen dienten. Unter einem der Lager befanden sich ein ausgetretenes Paar Ledersandalen und ein Kamm, unter dem anderen zehn Seiten tibetischer heiliger Schriften. Shan blickte zurück zu der ersten Schlafstelle. Ein Kamm. Die Nonnen trugen ihr Haar sehr kurz oder schoren es sich ganz ab. Er hielt sich den kleinen schwarzen Kamm an die Nase. Es hing ein seltsam schwerer Duft daran, aber zu undeutlich, um sich genau bestimmen zu lassen. Shan nahm die Kissen mit hinaus und schlug die Stoffklappen auf, um an die Füllung zu gelangen. Das erste enthielt lediglich die vertraute gewaschene Wolle, die in solchen Kissen Verwendung fand. Das zweite war ebenfalls mit Wolle gefüllt, doch ganz unten steckte noch etwas, von dem ein Geruch nach Zitrone und Kokosnuss aufstieg. Er holte die Wolle heraus, dann einen langen seidigen Strang, den er in die Sonne trug. Es war dunkelbraunes Haar, ungefähr einen halben Meter lang.
»Ich dachte, ich hätte es gut versteckt«, gestand Chenmo, die an der Ecke der Hütte stand.
»Du hast mich hergeschickt, damit ich es finde«, erwiderte Shan.
»Ich dachte, du würdest bloß die Gebetsfahnen finden. Ich wusste nicht, was ich mit ihnen machen sollte. Ein starkerWind hat die meisten davongeweht. Der Berggott hätte sie nehmen können, falls er gewollt hätte, aber er hat sie hiergelassen. Es steht mir nicht zu, sie zu zerstören.«
»Aber du dachtest, ich würde es tun«, sagte Shan. Ohne weiter darüber nachzudenken, roch er an dem Haar. Dann war es ihm plötzlich peinlich, und er ließ es wieder sinken. »Wissen die Nonnen davon?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihnen jedenfalls nichts davon erzählt.«
»Für die Öffentliche Sicherheit steht fest, dass die Ausländer Freunde der Äbtissin gewesen sind und mit ihr bei den Ruinen gearbeitet haben. Es gibt nicht viele Orte, an denen Ausländer sich aufhalten könnten, ohne beträchtliche Aufmerksamkeit zu erregen. Letztendlich wird den Kriechern klar werden, dass die Einsiedelei ihnen als Operationsbasis gedient haben muss.«
»Aber so war es nicht. Rutger und Cora haben begriffen, in welche Gefahr wir dadurch geraten würden. Sie hatten ein Lager weiter oben und sind nur manchmal hergekommen, um an den Gebeten teilzunehmen und mit den Nonnen zu sprechen.«
»Und wieso hat die Frau sich dann nicht an dem Lagerplatz versteckt?«
»Sie hat ihn aus irgendeinem Grund nicht mehr für sicher gehalten. Sie hatte schreckliche Angst.«
»Weil sie dabei war, an jenem Tag in den Ruinen.«
Chenmo nickte. »Sie wusste davon und hatte den Mörder gesehen. Da bin ich mir sicher. Aber sie wollte nichts von den Ereignissen erzählen. Sie hat bloß immer wieder gesagt, sie müsse weg von hier und es sei alles ein gewaltiger Fehler gewesen.«
»Was war ein Fehler?«, hakte Shan nach. »Soll das heißen, die Leute, die im Kloster umgebracht wurden, hätten einen Fehler begangen?«
Chenmo zuckte die Achseln.
»Wie hast du sie nach den Morden gefunden?«
»Sie wusste, dass ich oft auf den Hängen unterwegs bin und nach Kräutern suche oder alte Pilgerpfade säubere. Als sie am Tag nach den Morden zu mir gekommen ist, war sie wie ein wildes Tier, kaum mehr bei Sinnen, bedeckt mit Dornengestrüpp und mit getrocknetem Blut an den Händen. Sie konnte kaum sprechen.«
»Sie spricht Tibetisch?«
»Nicht viel. Sie hatte
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