Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Ausländer hatten sich hier sicher gefühlt. Es war ihre Zuflucht gewesen. Er ging die Wand entlang und sah nun einen Fisch und eine Lotusblüte und begriff, dass er den Künstler kannte. »Jamyang war hier.« Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Chenmo unschlüssig.
Er holte einen kleinen Plastikbuddha aus einer Felsspalte. »Hat der den beiden gehört?«
Sie nahm den Buddha und betrachtete ihn verwirrt. »Die werden in Chegar verteilt. Aber es sind keine Mönche hergekommen. Cora und Rutger haben darauf geachtet, sich vor allen außer den Nonnen und Jamyang verborgen zu halten.«
Shan ließ besorgt den Blick in die Runde schweifen. »Die Amerikanerin ist nicht zu ihrem geheimen Lager zurückgekehrt, aber ein Dieb war hier.«
Chenmo wich an eine der Wände zurück, als hätte sie plötzlich noch mehr Angst.
»Wo ist sie, Chenmo?«, fragte Shan jäh. »Sie schwebt in großer Gefahr.«
»Es kam eine Nachricht«, sagte die Novizin. »Die Äbtissin würde an der alten Straße hinter den Ruinen auf uns warten.«
»Du meinst ihre Leiche, nachdem man sie der Öffentlichen Sicherheit entwendet hatte.«
»Entwendet? Die Äbtissin hat zu uns gehört.«
»Die Öffentliche Sicherheit betrachtet den Leichnam als Beweisstück einer Mordermittlung.«
»Ihr Körper ist Beweis ihres frommen Daseins.«
»Also haben die Nonnen ihn geholt.«
Chenmo nickte langsam. »Aber am Abend zuvor war der alte Onkel vorbeigekommen. Er hat gesagt …«
Shans Herz vollführte einen Sprung. »Lokesh?«, unterbrach er sie. »Du hast Lokesh gesehen?«
»Ja. Onkel Lokesh. Er kam nach Einbruch der Dunkelheit und fragte, ob er in unserem Stall schlafen dürfe. Er hat auch nach dir gefragt und gesagt, er wolle am nächsten Tag zu Jamyangs Schrein gehen und werde dich dort treffen. Aber als er vom Leichnam der Äbtissin hörte, hat er sich eines anderen besonnen. Er sagte, der Leichnam müsse den Berg hinauf, zurück zu Jamyang, denn das hätte sie so gewollt und die Polizei könne sie ansonsten hier finden. Er sagte, er würde uns einen Weg abseits der Straßen zeigen.«
»Zu den Leichenzerlegern.«
»Den ragyapas , ja. Ani Ama sollte den Wedel tragen und das Amt der Äbtissin übernehmen. Sie war einverstanden. Sie sagte, sie würde gehen und noch drei weitere von uns. Mirwurde klar, dass das die Gelegenheit für Cora war. Als wir die Straße erreichten, waren wir zu fünft, dazu Lokesh und der Leichnam.«
»Die Amerikanerin hat sich der Gruppe angeschlossen.« Shan seufzte erleichtert auf. Lokesh und Cora waren in Sicherheit. Die Öffentliche Sicherheit hasste die Leichenzerleger und mied sogar jeden Kontakt mit ihnen.
»Wir sollten ihnen eine Nachricht schicken«, sagte Shan. »Die Amerikanerin soll vorläufig dort bleiben, und Lokesh kann ihr Gesellschaft leisten.«
»Lokesh ist bei ihr«, sagte Chenmo angespannt. »Aber nicht bei den Leichenzerlegern.«
»Wie meinst du das?«
Im Blick der Novizin lag großer Kummer, und sie schien nicht mehr sprechen zu können.
Shan sah sie an und glaubte zu verstehen. »Es tut mir leid. Ich verlange zu viel. Falls herauskäme, dass du mir geholfen hast, würde man dir nie gestatten, ein Gewand zu tragen.«
Chenmo benötigte lange, bis sie etwas entgegnen konnte. »Einer der purbas , einer der freien Tibeter, die aus Indien herübergekommen sind, hat mir etwas erklärt, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Die Regierung gibt Menschen ohne Familie sowieso keine Gewänder. Sie benutzt die Angehörigen nämlich als Geiseln und lässt sie Garantien unterschreiben, dass sie ihrem Sohn oder Bruder, ihrer Tochter oder Schwester nicht gestatten werden, an verräterischen Handlungen teilzunehmen. Falls der Mönch oder die Nonne sich später als illoyal erweist, wird die Familie ins Gefängnis geworfen. Er hat gesagt, eine Waise wie ich könne sich niemals als Nonne registrieren lassen.«
Shan wusste nicht, wie er sie trösten sollte. »Ich verlange zu viel«, wiederholte er. »Sag mir einfach, wohin ich gehen muss, um zu erfahren, was vorgefallen ist.«
Chenmo biss sich auf die Lippe. »Ich glaube, das kann ich nicht. Ich werde es dir zeigen müssen.«
Die Novizin blieb stumm, während sie auf einer etwas direkteren Route zu der Stelle abstiegen, an der Shan seinen Wagen zurückgelassen hatte. Dann deutete sie ihm nur mit Gesten die Richtung an und führte ihn auf eine schmale Schotterpiste, die sie in weitem Bogen um die Klosterruinen und zu den
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