Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
einzurichten. Sie hat gesagt, die Soldaten könnten andernfalls alle krank werden. Hier gibt es keine echten Aufseher, nur Polizisten.« Shan und Lokesh kannten die Schlägertypen nur zu gut, die Chinas Zwangsarbeitslager bewachten. »Wie ein Übungsgefängnis. Es gibt nicht mal Anwesenheitsappelle. Die merken gar nicht, dass die Kranken alle paar Stunden wechseln. Diejenigen, die es am schlimmsten erwischt hat, sind in den alten Bunkern ganz hinten. Von dort ist es nur ein kurzes Stück bis zum Friedhof. Sie werden einfach mit Schubkarren fortgeschafft, fünf oder sechs am Tag, seit der Typhus ausgebrochen ist.«
Eine alte Frau, die auf der obersten Stufe stand, bedachte sie mit einem tadelnden Blick, wich nach einer kurzen Anweisung von Lokesh aber zur Seite. Shan stieß die Tür auf und sah entlang der Wände des Gebäudes weitere Reihen von Schlaflagern vor sich. Nur dass die Hälfte der Insassen nicht darauf lag, sondern mit übergeschlagenen Beinen dasaß, Gebete murmelte und malas durch die Finger gleiten ließ, ihre Gebetsketten. Die Rückwand der langen Halle war mit den Kreidebildern von Gottheiten verziert.
»Ani Ama hat das an unserem ersten Tag hier organisiert. Sie nennt es unsere Geheimarmee«, erklärte Lokesh und zog Shan dann wieder nach draußen.
So hart es auch war, das Internierungslager ließ sich wirklich kaum mit den Zwangsarbeitslagern vergleichen, die Shan kennengelernt hatte und in denen mit gnadenloser Brutalität ein striktes Regiment durchgesetzt wurde. Er erinnerte sich, wie Jigten diesen Ort genannt hatte. Kein Gefängnis, nur ein Käfig ohne Ausweg. Sie blieben bei einer Handpumpe stehen. Lokesh betätigte den Schwengel, und Shan hielt seinen Kopfunter den kalten Wasserstrahl. Dann setzten sie sich in einen klapprigen Unterstand, außer Sichtweite der Wachposten.
Lokesh berichtete von seiner letzten Reise mit dem toten Lama, als wäre Jamyang noch am Leben gewesen. Er erzählte von den tanzenden Sternen über ihren Köpfen während des nächtlichen Aufstiegs, von den Schmetterlingen, die sich häufig auf Jamyang niedergelassen hatten, und von den ragyapas , den Leichenzerlegern, die ihm ehrfürchtig einen Meteoriten gezeigt hatten, der eine Woche zuvor rot glühend auf ihrem Knochenfeld eingeschlagen war.
Shan schilderte, was er seit dem Aufbruch seines Freundes in Erfahrung gebracht hatte, wenngleich er sich nicht dazu durchringen konnte, Chenmos seltsame Geschichte über die Begegnung mit Jamyang auf dem Rasthof zu wiederholen.
»Konnten sie fliehen?«, fragte er. »Die Nonnen mit der Äbtissin?«
»Ich bin davon überzeugt.« Lokesh nickte. »Andernfalls wären sie hier im Lager gelandet. Die Äbtissin ist in Sicherheit. Dieser Meteorit war ein Zeichen, dass das Knochenfeld weiterhin unter dem Schutz der Gottheiten steht.« Er senkte die Stimme und beugte sich zu Shan herüber. »Ani Ama hat mir erzählt, dass es bei der Einsiedelei eine Hütte gibt, in der die Nonnen rund um die Uhr den vollen Zyklus der Riten aufsagen. Sie wechseln sich ab, und es sind immer mindestens zwei.«
Den vollen Zyklus. Lokesh meinte die neunundvierzig Tage der traditionellen Trauerperiode. »Für Jamyang und die Äbtissin. Es wird ihnen helfen, die nächste Stufe zu finden, die ihnen vorherbestimmt ist.« Lokesh richtete sich auf und warf einen versonnenen Blick in Richtung des heiligen Berges. »Ob aufwärts oder abwärts«, sagte er ernst.
Shan begriff erst nach einem Moment, dass sein Freund auf die nächste Existenz anspielte, die folgende spirituelle Stufeder Toten. Die Tatsache, dass Jamyang die Viererwahl getroffen hatte, lastete schwer auf Lokesh. Fromme Tibeter glaubten, dass sowohl Mörder als auch Selbstmörder schrecklich bestraft und dann weit unten in der Kette der Existenz wiedergeboren werden würden. Es konnte Hunderte von Leben dauern, bis sie wieder die menschliche Form erreichten.
»Sie werden die Amerikanerin finden, Lokesh«, sagte Shan nach langem Schweigen. »Und dann sieht es nicht gut für die Frau aus. Niemand draußen weiß, dass sie hier ist. Also muss man auch keine Rechenschaft über sie ablegen.«
»Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach. Viele der Leute hier haben sie nicht mal als Ausländerin erkannt. Sie hat eine dunkle Gesichtsfarbe und sich die Haare abgeschnitten.« Lokesh warf Shan einen flehentlichen Blick zu. »Was ist, wenn ihr dieser Weg vorherbestimmt war? Was ist, wenn sie vorhätte, eine Nonne in Tibet zu werden? Ich habe dich so oft sagen
Weitere Kostenlose Bücher