Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
bereits regelrecht ausgehöhlt. Shan reihte sich zwischen den anderen Häftlingen ein, von denen viele sehnsüchtig zu den grünen Hängen der umliegenden Berge hinaufschauten. Sie waren Hirten und wussten, dass sie mit ihren Herden auf die Sommerweiden gehörten.
Am Zaun hingen Banner. Umarmt das sozialistische Wunder , lautete eines. Ein anderes war vom Wind halb zerfetzt worden, und man konnte nur noch die Worte Fortschritt gegen erkennen. Die Wachen bemühten sich gerade, trotz der kräftigen Brise einen neuen Slogan am Draht zu befestigen. Eine Partei, ein Volk .
Shan blieb stehen, um sich den Komplex außerhalb des Lagers anzusehen. Am Haupttor gab es Wachbaracken und daneben ein langes Verwaltungsgebäude. Dahinter, am Ende der Straße, standen zwei quadratische Bauten mit Laderampen. Das mussten die Lagerhäuser sein, bei denen Lungs Lastwagen ihre Ladung ablieferten.
Ein Signal ertönte, eine gellende Luftdruckfanfare, bei deren Klang die Tibeter in Shans Blickfeld kollektiv zu erschaudernschienen. Eine dicke Chinesin in tadelloser brauner Uniform streckte die Fanfare über den Kopf, rief den Gefangenen etwas zu und scheuchte sie in Richtung des Speisesaals. Shan wagte es nicht, sich der Frau zu nähern, und mischte sich unter die anderen. Sie drängten auf das Gebäude zu. Auf der anderen Seite der zusammenströmenden Häftlinge tauchten noch mehr Gestalten in Braun auf, manche mit Schlagstöcken. Shan begab sich in die Mitte der Menge und ließ sich in den Speisesaal tragen.
Hier standen enge Reihen aus schlichten Brettertischen und -bänken, und auf jedem der Tische lagen Notizblöcke und Bleistifte bereit. Drei der Wände waren mit weiteren politischen Bannern versehen, an der vierten hingen große Plakate mit den Abbildern von Helden der Partei. Shan setzte sich und fand sich zwischen zwei Tibeterinnen mittleren Alters wieder, die nervös die Bühne im vorderen Teil der Halle beobachteten. Dort saß ein halbes Dutzend chinesischer Männer und Frauen an einem Tisch neben einem Podium. Diese Instrukteure schienen fast noch Halbwüchsige zu sein. Unter den Söhnen und Töchtern der Parteielite war es üblich, nach Abschluss der höheren Lehranstalt für ein oder zwei Jahre derartige Aufträge zu übernehmen. In Peking nannte man so etwas eine Missionarstätigkeit.
Der erste Sprecher las ein Kapitel aus einem Buch über die Helden der Revolution vor. Die Tibeter hörten mit ausdruckslosen Mienen zu. Dann enthüllte eine der Frauen eine Tafel und zeigte mit einem Lineal auf jedes einzelne Schriftzeichen des Slogans, der darauf stand. Gleichzeitig rief sie die Worte hinaus. China ist mein Mutterland. Das Mutterland sorgt für uns alle . Danach verlangte sie mit schriller, ungehaltener Stimme, dass die Häftlinge gemeinsam mit ihr jedes Wort wiederholten. Die Leute rund um Shan fingen ängstlich an zu flüstern. Er sah sich nach allen Seiten um. Manche vonihnen waren so erschrocken, dass sogar ihre Hände zitterten. Es handelte sich um Bauern oder Hirten, die man vermutlich nicht wegen eines eigenen Vergehens zusammengetrieben hatte, sondern weil einer ihrer Angehörigen oder Nachbarn einer Verfehlung beschuldigt wurde. Wer offen eine abweichende Meinung äußerte, wurde ins Gefängnis geschickt und gebrochen. Und wer Gefahr lief, von dem verderblichen Einfluss angesteckt zu werden, wurde einer Behandlung durch schrille junge Chinesen in tadellosen braunen Uniformen unterzogen.
Die Frau befahl den Häftlingen, ihre Bleistifte zu nehmen und das erste Schriftzeichen des Slogans zu schreiben. Shan nahm genervt den Bleistift, der vor ihm lag. Dann fiel ihm auf, dass niemand sonst am Tisch es ihm gleichtat. Ihm wurde plötzlich klar, dass die anderen kein Chinesisch sprachen.
Er übersetzte hastig auf Tibetisch, während die anderen Politoffiziere anfingen, mit langen Holzpaddeln die Reihen abzuschreiten. Shan schrieb das erste Zeichen auf sein Blatt. Als ein Tibeter auf der anderen Seite der Halle aufschrie, weil er geschlagen wurde, schnappte Shan sich flink die Blätter der Leute in seiner Nähe und versah auch sie mit dem Schriftzeichen.
» Tujaychay «, flüsterte die Frau neben ihm, als ein Offizier mit beifälligem Nicken an ihr vorbeiging. Danke .
» Lha gyal lo «, erwiderte Shan und berührte das kleine gau , das unter seinem Hemd hing.
Zwei Stunden später verließ er das Gebäude und blinzelte in die grelle Nachmittagssonne. Er folgte dem Häftlingspfad und blieb stehen, um sich die Erdbunker
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