Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
wäre es kaum von Nutzen, die wahre Natur der Dinge zu kennen.« Das war kein Gebet, sondern ein Gedicht von Milarepa, Tibets Dichter und Heiligem aus alter Zeit, über eine Begegnung mit bösen Göttern. »Wie schön, dass du gekommen bist. Bitte bleib, damit du allen auf die Nerven gehen kannst«, fuhr die sanfte Stimme fort und zog Shan hoch zum Licht.
Dann endlich, mit dem Keuchen eines Ertrinkenden, der wieder an die Luft gelangte, wachte er auf. Das ledrige, unrasierte Gesicht, das über ihm schwebte, lächelte. Er packte Lokeshs Hand.
»Falls ich geahnt hätte, dass ich dir während meines Urlaubs so fehlen würde, hätte ich dir eine Karte geschrieben«, scherzte der alte Tibeter.
Shan umschloss Lokeshs Finger mit beiden Händen und drückte sie fest, während er von Erleichterung durchströmt wurde. Er versuchte zu sprechen, aber aus seinem Mund kamnur ein trockenes Krächzen. Lokesh richtete ihn auf und hielt ihm einen hölzernen Schöpflöffel mit Wasser an die Lippen.
»Geht es dir gut, mein Freund?«, fragte Shan, nachdem er getrunken hatte.
»Ach, du kennst doch die Ferienlager der Regierung. An den Mahlzeiten und Betten wird immer zuerst gespart.«
Shan schob sich mit Mühe und unter Schmerzen ein Stück zurück und lehnte sich an die Wand, um sich besser umsehen zu können. Sie befanden sich in einer Ecke eines lang gestreckten, an einer Seite offenen Gebäudes, anscheinend eine Art Garage. Draußen gab es Reihen heruntergekommener Baracken. »Ein Armeestützpunkt?«
»Ursprünglich ein Ausbildungslager für den Sommer«, ertönte eine leise Stimme hinter Lokesh. Eine stämmige Frau mit kurz geschorenem grauen Haar trat vor. »Es wurde schon vor Jahren aufgegeben. Manche der Gebäude taugen nur noch als Brennholz.«
Shan hatte sich keine Sorgen gemacht, Lokesh und die Nonne inmitten der vielen Hundert Lagerinsassen vielleicht nicht finden zu können. Er hatte gewusst, dass sie bei den Kranken und Verwundeten sein würden.
»Ich heiße Shan«, sagte er zu der Nonne.
Die Frau nickte zurückhaltend.
»Ani Ama ist eine erfahrene Heilerin«, sagte Lokesh. »Man gesteht uns keine Ärzte zu.«
Shan nahm das Gebäude, in dem er lag, genauer in Augenschein. Die Bettstätten der Patienten standen auf voller Länge der Rückwand. Einige von ihnen, wie Shan, trugen provisorische Verbände über äußeren Verletzungen. Die meisten sahen blass und fiebrig aus. Manche zitterten unkontrolliert. Andere weinten.
Er musterte seinen Freund und bemerkte nun die grünblauenBlutergüsse auf dessen Gesicht und Unterarmen. »Haben die … bist du …?«
»Es geht mir gut«, sagte Lokesh mit angedeutetem Lächeln und warf Shan einen bedeutungsvollen Blick zu. Während ihrer gemeinsamen Haftzeit war Lokesh häufig bestraft worden, meistens für Verstöße gegen die Vorschriften, weil er einem leidenden Mithäftling geholfen hatte, doch er hatte nie von den Schlägen erzählt und sich kein einziges Mal beklagt. »Du hättest nicht kommen sollen«, fügte er hinzu. »Es ist zu gefährlich. Du musst an Ko denken.«
Als der Name seines Sohnes fiel, musste Shan gegen eine neue Gefühlswallung ankämpfen. »Ko läuft nicht weg. Ich habe nachts dein Schnarchen vermisst.«
Lokeshs Grinsen, das seit dem Tritt eines Kriecher-Stiefels vor vielen Jahren schief war, enthüllte seine gelb verfärbten, ungleichmäßigen Zähne. Er drückte für einen Moment Shans Arm und erhob sich dann, um ihm auf die Beine zu helfen.
Shan biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Schmerzen in Schultern und Rücken an. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie die Polizisten ihn von der Statue gezerrt und mit ihren Schlagstöcken malträtiert hatten. Mit Lokeshs Hilfe humpelte er hinaus in die Sonne.
»Es sind zu viele hier«, sagte Lokesh. »Das Lager ist nur für die Hälfte ausgelegt. Es gibt nicht genug zu essen. Nicht ausreichend Schlafgelegenheiten und Decken. Zu wenige Latrinen.«
Shan sah nur ein paar vereinzelte Tibeter auf dem Gelände umherwandern. »Wo sind sie?«
Lokesh zeigte auf das größte der Gebäude, zweifellos ein ehemaliger Speisesaal. »Beim Unterricht. Du kennst das alles schon. Stundenlange Vorträge, jeden Tag. Die Pflicht gegenüber dem Mutterland. Pekings Version der Geschichte von Tibet. Magische Gesänge aus dem kleinen roten Buch.«
Er führte Shan zu der nächstgelegenen Baracke und blieb an den verzogenen Holzstufen des Eingangs stehen. »Ani Ama hat sie davon überzeugt, einen Quarantänebereich
Weitere Kostenlose Bücher