Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
gehört, du hättest dich verwandelt, nachdem du hergekommen warst. Vielleicht ist dies hier nur ein Teil ihrer Reise, den sie erdulden muss, um sich ebenfalls zu verwandeln.«
Shan spürte, wie sein Mund sich zu einem melancholischen Lächeln verzog. Er war so müde, so zermürbt. Nichts hätte ihm besser gefallen, als hier zu sitzen und sich mit der sanften Weltsicht seines Freundes zu trösten. »Sie werden sie finden«, sagte er stattdessen. »Jemand wird es ihnen erzählen. Es gibt immer jemanden. Du weißt, wie das läuft. Eine Kritiksitzung, in der die Häftlinge gezwungen werden, über andere Insassen zu sprechen. Oder sie wird sich irgendwie verraten. Sie spricht fast kein Tibetisch. Es ist ein Wunder, dass sie es bis hierhin geschafft hat. Ich muss mit ihr reden.«
Lokesh lächelte. Dann zuckte er die Achseln. »Ein Wunder, da hast du recht. Und was hat dich im Gefängnis am Leben erhalten, mein Freund?«
Shan wurde fast von seinen Gefühlen übermannt, als er denBlick des alten Tibeters erwiderte. »Ein Wunder«, flüsterte er und wandte sich seufzend ab. »Ich muss sie hier wegschaffen.«
»Sie wird nicht mit dir reden.«
»Bring mich zu ihr. Ich muss es versuchen. Sie könnte sterben.«
»Tu es nicht, Shan«, bat Lokesh. »Bring sie nicht zurück zu dem Tod, zu der Schwärze des Mordens. Ich glaube, sie versucht, eine Nonne zu werden. Ani Ama sagt, die Gottheiten müssten es so beabsichtigt haben. Die Äbtissin stirbt auf unerwartete Weise, eine neue Nonne trifft auf unerwartete Weise ein.«
Shan seufzte und schaute hinaus über das Lager. »Ich erinnere mich, dass einer der alten Mönche in unserem Gefängnis mal einen verletzten Vogel gefunden hat. Jeder andere hätte das Tier gegessen, aber ihr beide habt aus einem alten Korb einen kleinen Käfig angefertigt. Der Lama schloss den Vogel sehr ins Herz. Aber als das Tier geheilt war, hast du zu ihm gesagt, er müsse die Käfigtür offen lassen. Du hast gesagt, der Vogel dürfe die Entscheidung über sein Schicksal nicht aus Angst treffen, sondern müsse seiner wahren Natur folgen. Der Vogel ist weggeflogen.«
Shan sah Lokesh an, dass der alte Tibeter es begriff. »Sie kann nicht aus Angst Nonne werden«, fuhr er fort. »Sie kann diese Entscheidung erst treffen, wenn sie wieder frei ist.«
Lokesh wandte sich ihm schweigend zu. Shan kannte diesen Blick. Es lag Geduld und Zuneigung darin, aber auch Enttäuschung.
»Damals, als man mich mal wieder zur Bestrafung weggeführt hatte …«, sagte Shan und erschauderte bei der Erinnerung. Die chinesischen Aufseher hatten ihn stets einer Sonderbehandlung unterzogen, wenn er einem der tibetischen Häftlinge geholfen hatte. In ihren Augen war das Verrat, und so waren sie auch mit ihm umgesprungen. »Du hast zu mirgesagt, der Schmerz könne mich niemals im Innern treffen, solange ich nur wahrhaftig bliebe. Auch sie muss wahrhaftig bleiben. Sie muss sich von mir helfen lassen, damit sie uns helfen kann.«
»Du meinst, sie kann nur dann eine Nonne werden, wenn sie aufhört, eine Nonne zu sein«, sagte Lokesh nach einem langen Moment. »Doch weder du noch ich können so etwas von ihr verlangen«, fügte er hinzu.
***
Während Shan durch das Lager humpelte, versuchte er sich einzureden, seine Schmerzen rührten allein von den Polizeiknüppeln her. Doch es war vergeblich. Er liebte Lokesh wie einen zweiten Vater und wusste, dass die Zuneigung erwidert wurde. Dennoch schien sich alle paar Monate eine Kluft zwischen ihnen aufzutun, eine Lücke, die unüberbrückbar wirkte. Anfangs hatte er geglaubt, die Ursache sei Lokeshs unerschütterliche Überzeugung, man müsse dem Schicksal seinen Lauf lassen, denn die Gottheiten würden am Ende die Lösungen aller Probleme finden, während Shan den Gang der Ereignisse ständig beeinflussen wollte. Doch mittlerweile neigte Shan zu einer anderen Erklärung. Männer wie Lokesh hatten jahrzehntelang von der Hoffnung gezehrt, man könne die alten Bräuche wieder aufleben lassen. Nun schwand diese Hoffnung allmählich, und Shans Land war dafür verantwortlich. So wie Lokesh einst Teil der Regierung des Dalai Lama gewesen war, hatte Shan für die Regierung gearbeitet, die Tibets Zerstörung betrieb. Sie beide waren lediglich Schauspieler auf einer Bühne am Ende der Zeit. Großer Kummer stieg in ihm auf. Seine Erschöpfung war plötzlich überwältigend.
Er setzte sich unter einen der wenigen Bäume, dessen Rinde und unteren Äste bereits irgendwo verfeuert worden waren,und
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