Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
ihrer früheren Existenz ab. Und sie leben nur noch ihre Tarnidentität, jede Stunde, jede Minute, ohne sich jemals jemandem anzuvertrauen. Sie verschwinden für Monate oder sogar Jahre von der Bildfläche, und nicht einmal ihre Agentenführer wissen, wo sie stecken. Für das Mutterland ist kein Opfer zu groß.«
Shans Mund wurde trocken.
»Ein Agent könnte sich eine solche Nummer auf den Arm tätowieren lassen und eine Tarnung aufbauen, die nur für ihn und seine Führungsoffiziere einen Sinn ergibt. Die besten dieser Agenten könnten fünf Jahre in einem Straflager überstehen, um das Vertrauen ihrer Zielpersonen zu gewinnen. Falls Sie ein solcher Agent wären, was würden Sie mir erzählen?«
Er blickte hinab in seine offenen Hände. »Dass ich nicht alsInformant eingeschleust wurde. Dass man mich wirklich ins Gefängnis gesteckt hat, um mich zu bestrafen.«
»Genau.«
Shan wollte widersprechen, zögerte jedoch. Er begriff nicht, weshalb ihm so viel daran lag, dieser Frau seine wahren Lebensumstände zu vermitteln. Letztlich gab es keine Möglichkeit, sie zu widerlegen. Sie wollte unbedingt glauben, dass er nicht real, sondern ein Agent war, ein Spitzel. In ihrer Welt musste niemand real sein. Es gab in ihrer Welt keine Wahrheit, nur ein größeres oder kleineres Maß an Propaganda. Und in gewisser Weise hatte sie ja recht. Er führte eine verdeckte Existenz, er verbarg die wichtigsten Bestandteile seines Lebens, er hielt seine bedeutendsten Wahrheiten geheim.
Er zog den Ärmel wieder herunter. »Ich weiß, wie man überlebt«, wiederholte er angespannt.
»Sie sind ein Narr, das zu glauben. Das Überleben an einem solchen Ort ist ein Glücksspiel. Ein einziges Mal Pech gehabt, und Sie landen in der Grube. Es gibt nicht mal ein Leichentuch. Man wirft Sie hinein und schaufelt Ihnen vielleicht noch etwas Kalk ins Gesicht. Die Vögel werden an Ihnen herumpicken, bis Ihr Massengrab voll ist und eine Planierraupe Erde darüber schiebt. In China bedeuten Tote nicht das Geringste.« Der letzte Satz klang regelrecht verbittert.
Shan musterte sie. Sie hatte vor seinem Eintreffen im Halbdunkel dagesessen und ihren Schreibtisch angestarrt. »Was ist passiert, Leutnant?«
Sie blickte wieder zum Fenster hinaus in den Abend. »Ich hätte es nicht sehen sollen. Ich wollte es nicht sehen. Hinter der Gebietszentrale gibt es einen Schuppen neben dem Zellenblock. Die Tür stand offen. Im Innern waren Eisblöcke gestapelt, und da bin ich neugierig geworden. Wenn ich gewusst hätte, dass das Eis für ihn bestimmt war, wäre ich weggeblieben.«
»Sie meinen den Deutschen. Es wurden nur zwei Leichen gestohlen, denn Liang hatte den Deutschen bereits wegschaffen lassen.«
Meng nickte. »Aber sie hatten ihn misshandelt.«
Shan erschauderte. »Er war bereits tot, Meng.«
»Sie haben auf ihn eingeschlagen, ihm den Rest seines Gesichts zertrümmert, ihm die Arme und Beine gebrochen. Neben dem Tisch hat ein Vorschlaghammer gelegen.«
Nun starrte Shan den leeren Schreibtisch an. »Ist der Major abgereist?«
»Nein. Er war nach dem Gespräch mit Ihnen einen Tag weg. Nun ist er wütend auf jeden. Er hat mehr Leute angefordert, um hier für mächtig viel Unruhe zu sorgen. Er sagt, das hätten wir davon, dass wir den Tibetern in diesem Tal so viele Freiheiten einräumen würden. Er bleibt so lange, bis alles erledigt ist.«
»Sie meinen, bis man die Amerikanerin gefunden hat.«
»Falls sie etwas weiß, sollte sie sich melden.«
»Und Sie halten mich für einen Dummkopf? Sie wissen, was als offizielle Todesursache des Deutschen beschlossen wurde. Er hat einen Unfall erlitten, vermutlich beim Bergsteigen, und ist Hunderte von Metern in die Tiefe gestürzt. Ausländer sind ja bekannt dafür, dass sie heimlich auf verbotene Berge klettern. Zu schade um seine Freundin. Sie wird wohl an ihn angeseilt gewesen sein.«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Die Amerikanerin ist Zeugin der Morde gewesen. Sie ist tot, sie weiß nur noch nichts davon.«
***
Dschingis war so zäh wie sein mongolischer Namensvetter. Der junge Mann litt sichtlich unter starken Schmerzen undhielt bei seiner Arbeit im Park immer wieder inne, um sich an die Seite zu greifen oder den Kopfverband zurechtzuziehen. Er hatte es auf die großen Bolzen abgesehen, mit denen die Bretter der Parkbänke befestigt waren, und er machte das eindeutig nicht zum ersten Mal. Mit einem Schraubenschlüssel in einer Hand und einem Hammer in der anderen ging er äußerst effizient ans Werk
Weitere Kostenlose Bücher