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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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beobachtete das Leben im Lager. Die Häftlinge strömten nach ihrem morgendlichen Glaubensunterricht aus dem Speisesaal. Ein Lautsprecher erwachte knisternd zum Leben, und es erklang eine beliebte Parteihymne. Der Osten ist rot.
    Shan lehnte sich gegen den sterbenden Baum und studierte die Bewegungen der Posten, die Anordnung der Wachtürme sowie die zeitweilige Betriebsamkeit am Haupttor und an der kleineren Zufahrt im hinteren Teil der Anlage. Seine Lider wurden schwer, und er konnte nicht länger gegen die Schläfrigkeit ankämpfen.
    Als er aufwachte, trug er nur noch einen Schuh. Lokesh saß neben ihm und flickte den anderen Schuh mit Nadel und Faden. An Shans Seite stand außerdem ein Blechbecher mit Gerstenbrei.
    »Das ist alles, was wir zweimal am Tag zu essen bekommen«, erklärte Lokesh, als Shan den Becher nahm und einen Finger in den dünnen Brei steckte. Es fühlte sich an wie körniger Kleister.
    »Sägemehl«, murmelte er angewidert. Die Wachen mischten das Getreide mit Sägemehl.
    Lokesh nickte sachlich und nähte weiter. »Es herrscht dieses Jahr keine Getreideknappheit. Die leeren Mägen der Häftlinge machen irgendjemanden reich. Nicht genug Decken, nicht genug Toilettenpapier, nicht genug Kleidung.« Das galt für die meisten chinesischen Gefängnisse. Die Aufseher zweigten Vorräte ab und verkauften sie auf dem Schwarzmarkt.
    Der alte Tibeter zog einen Faden fest und blickte dann zu Shan auf. »Ich kann mich an Jahre erinnern, in denen so viel Sägemehl im Gerstenbrei war, dass man ihn anzünden konnte. Wir haben daraus kleine tormas gemacht und sie für die Götter verbrannt.«
    Shan erinnerte sich mit schwermütigem Lächeln. Die Winter in ihrem Straflager waren höllisch gewesen. Jeder Insassehatte einfach nur versucht, die Kälte und den Hunger noch einen Tag länger auszuhalten. Ungeachtet ihrer leeren Bäuche hatten Lokesh und mehrere der älteren Lamas ihren mit Sägemehl durchsetzten Gerstenbrei dazu benutzt, kleine Opfergaben zu formen. Diese hatten sie dann auf behelfsmäßigen Altären verbrannt, so wie einst die torma -Butterfiguren in den Tempeln ihrer Jugend. Während vieler Nächte hatten die Lamas bei einem der Mithäftlinge gesessen, der an Unterernährung oder Typhus starb und sich oft auch vor Schmerzen den Leib hielt, und die kleinen flackernden Gottheiten beobachtet. Die Tatsache, dass der Tod bisweilen genau in dem Moment eintrat, wenn die letzte der Flammen zischend verlosch, war von ihnen als Zeichen dafür betrachtet worden, dass die Götter sie nicht vergessen hatten.
    Shan schaute Lokesh hinterher, als dieser zurück zu der provisorischen Krankenstation ging, und dachte daran, wie sehr er ihn vermisst hatte. Erst nach Jahren war ihm klargeworden, dass es in ihm eine leere Stelle gab, die nur durch die Anwesenheit des alten Mannes gefüllt werden konnte. Wenn Shan sich an die Sägemehlwinter im Gulag erinnerte, dann waren das albtraumhafte Visionen von gefrorenen Leichen, die man wie Brennholz stapelte, sanften alten Lamas voller schmerzhafter Frostbeulen und Arbeitstrupps, die durch Lawinen getötet wurden. Wenn Lokesh hingegen an jene Zeit zurückdachte, dann fiel ihm als Erstes ein, wie es ihnen stets gelungen war, die Gottheiten am Leben zu erhalten.
    Shan zwang sich, den Brei zu essen, und behielt dabei die Häftlinge im Blick. Viele wanderten auf dem Gelände im Kreis herum. Manche gingen in den baufälligen Baracken ein und aus, die als Unterkünfte dienten. Andere saßen allein da und ließen ihre Gebetsketten durch die Finger gleiten. Der ehemalige Armeestützpunkt war in U-Form angelegt, mit dem Speisesaal als Basis und Barackenreihen zu beiden Seiten. DieFreifläche in der Mitte hatte als Exerzierplatz und Übungsgelände gedient. Hinter dem Speisesaal folgten Felder voller Unkraut und dann entlang des rückwärtigen Stacheldrahts mehrere kleine Erdhügel, die einstigen Munitionsbunker. An den Türen eines halben Dutzends dieser Bunker hingen gelbe Stofffetzen, genau wie an der Tür der Quarantänebaracke. Jenseits des Drahtes, am Rand eines Weges, der am hinteren Tor begann, gab es eine Müllhalde und einen breiten, frisch ausgehobenen Graben, über dem Geier kreisten.
    Shan folgte der ausgetretenen Spur am Zaun entlang. Heilige Berge hatten ihre Pilgerpfade. Lagerinsassen hatten stets ihre Häftlingspfade. Er verstand nur zu gut, dass ein gefangenes Tier den natürlichen Instinkt verspürte, am Käfiggitter auf- und abzulaufen, und der Pfad hier am Zaun war

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