Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
sagte Shan. »Wer sonst noch?«
Doch Cora hörte ihn nicht. Sie befand sich an einem fernen, furchterregenden Ort. Tränen liefen über ihr Gesicht. »Ich hätte nicht gehen sollen. Ich hatte beschlossen, unser Essen zu der Stelle mit den Blumen zu bringen. Ich sah ihn auf einem Fahrrad kommen, aber das konnte nicht der sein, wegen dem sie sich Sorgen gemacht hat, habe ich gedacht. Ich habe bei den Blumen gesessen und gewartet. Die anderen ließen sich so lange Zeit. Ich bin wieder nach unten gegangen. Sie beten bei dem chorten , dachte ich. Er hatte mich nicht bemerkt. Er redete mit ihnen, war ganz wütend. Aber sie sagten nichts. Er beugte sich über Rutger – um ihm irgendwie zu helfen, dachte ich. Er hatte einen roten Lappen in der Hand. Ich dachte, sie müssen sich wohl mit der roten Farbe bekleckert haben. Dann drehte er sich um. Rutgers Kopf lag auf seinem Knie, und ich sah, was er getan hatte. Das in seiner Hand war Rutgers Gesicht. Man konnte das Blut an ihm nicht erkennen – wegen der Farbe. Ich bin gerannt. Er hat etwas gerufen, aber ich war schon an der hinteren Mauer. Ich bin gerannt. Ich bin gestürzt. Ich bin weitergerannt. Ich wusste nicht, wohin. Ich muss stundenlang gerannt sein.«
Shan sagte nichts, bis ihre Tränen getrocknet waren.
»Sie müssen Lokesh und mir vertrauen, Cora. Ich werde Sie von hier wegschaffen. Wir bringen Sie an einen sicheren Ort. Nicht in die Einsiedelei, denn die Nonnen werden beobachtet. Vielleicht zu den Mönchen. Lokesh und ich bringen Sie in das andere Kloster, Chegar.«
Cora sank in sich zusammen. Ihre Augen weiteten sich wieder angstvoll. »Verstehen Sie denn nicht? Ich habe es Ihnen doch gerade gesagt!«
»Was haben Sie mir gesagt?«, fragte Shan.
»Ich konnte all das Blut nicht erkennen, weil es sich nicht von seinem Gewand abgehoben hat. Wenn Sie mich in das Kloster bringen, ist das mein Todesurteil! Der Schlächter war ein Mönch.«
KAPITEL ELF
Ani Ama weigerte sich, an Shans Plan mitzuwirken. Sie hob eine Hand und unterbrach ihn. »Mein Platz ist hier«, sagte die Nonne. »Da sind zunächst mal die Kranken. Und nun werden auch noch Verwundete gebracht, von irgendeinem Aufruhr.« Es war mitten in der Nacht. Shan saß neben einer Toten, die von zwei anderen Frauen in ein Leinentuch gewickelt wurde.
»Was ist, wenn du draußen mehr für sie tun könntest?«, fragte Shan. »Wenn es eine Möglichkeit gäbe, der Welt zu zeigen, was hier vorgeht? Sobald es auch nur das geringste Anzeichen für einen Besuch internationaler Repräsentanten gäbe, würde man hier für richtige medizinische Betreuung und besseres Essen sorgen, das weißt du.«
»Nein«, beharrte sie. »Tu nicht so, als hätte ich solche Macht.«
»Die amerikanische und die deutsche Regierung haben solche Macht. Und sie werden diese Macht demonstrieren, wenn Cora mit Geschichten über das Lager heimkehrt – und der Geschichte eines ermordeten Deutschen und einer ermordeten Äbtissin.«
Die alte Nonne stand auf, legte der Toten eine Hand auf die Stirn und murmelte einen Segen, bevor man der Leiche das Tuch über den Kopf zog. »Das hat nichts mit mir zu tun«, sagte sie zu Shan.
»Die Äbtissin ruft nach Cora«, sagte Shan zu ihrem Rücken.»Es gibt für die Äbtissin nur eine Möglichkeit, dorthin zu gelangen, wo sie zu sein verdient.«
Ani Ama blieb stehen. »Glaubst du nicht, dass ich jede Nacht dafür bete?«
»Einer der jungen Mönche aus Chegar hat gesagt, er hört sie stöhnen, hört es im Dunkeln zwischen den Hügeln widerhallen. Die Äbtissin wandert verloren umher und kann nicht verstehen, was ihr und den anderen zugestoßen ist.« Die Nonne drehte sich langsam zu ihm um. Shan sprach weiter. »Ein furchtbarer Schatten fällt auf all jene, die im Tal Gewänder tragen. Hilf mir, die Wahrheit zu ergründen. Die Amerikanerin war da, bei dem Kloster. Geh mit uns von hier weg, und wir werden den Mörder gemeinsam finden.«
»Die Wahrheit über die Morde ist bei denen, die gestorben sind.«
»Falls wir wissen, wie wir lauschen müssen, können wir sie immer noch hören. Du kennst bereits einen Teil davon.«
»Unsinn. Ich war nicht dort.«
»Auch Jamyang ist an jenem Tag gestorben. Das war kein Zufall. Du bist mit der Äbtissin bei dem Leichnam von Lungs Sohn gewesen. Jamyang auch. Was ist passiert? Weshalb hat er sich vor dem Toten gefürchtet?«
»Ich glaube nicht, dass es der Tod war, der ihn geängstigt hat.«
»Dann sag es mir, Ani Ama. Warum ist er an dem Tag
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