Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Haben Sie den echten Shan getötet, den aus Peking?«
Als Shan nichts erwiderte, ging Liang auf die gegenüberliegende Seite des Tisches und hieb mit der Faust auf die Platte. »Sie sind kein gewöhnlicher Verbrecher! Durch den Angriff auf die Statue im Park haben Sie Ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie sind ein Verräter. Sie verhöhnen das Mutterland! Sie bringen Schande über das Mutterland!«
Shan schaute weiter aus dem Fenster auf die ungewohnte Landschaft. Die Zentrale befand sich ein Stück nördlich des Bezirks Lhadrung, in einem Dorf an der Kreuzung zweier Verkehrswege. »In meinem Abschnitt gibt es fünfhundertfünfzig Kilometer Gräben«, verkündete er, während Liang um den Tisch wanderte. »Ich entferne Schlamm und Müll und sorge dafür, dass das Wasser fließt. Sie wären überrascht, was für eine umfangreiche Aufgabe das ist.«
Seine einzige Warnung war eine verschwommene Bewegung, aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Der Hieb traf ihn mit stechendem Schmerz an der Wange. Liang tauchte wieder auf der anderen Seite des Tisches auf. Er hielt ein hölzernes Lineal.
»Wer hat die Leichen mitgenommen?«, herrschte Liang ihn an.
»Die haben Ihnen einen Gefallen getan, Major. Das politische Konstrukt eines Mordes kann zu vielerlei Dilemmata führen. Ohne Leichen gibt es auch keine Morde.«
Liang schlug erneut mit dem Lineal zu, diesmal auf Shans Handrücken. »Wer hat die Leichen mitgenommen?«, wiederholte er, nun mit schriller Stimme.
Shan blinzelte den Schmerz weg. »Das ist mir entfallen. Ihnen bleibt ja noch der dritte Leichnam, der lästigste von allen. Aber für den haben Sie schon einen Plan. Ein Kletterunfall. Oder soll es ein bedauerlicher Verkehrsunfall in den Bergen werden? Lassen Sie den Wagen lieber explodieren, dann können Sie weitermelden, die Leiche sei bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Man könnte es Ihnen sonst als Nachlässigkeit auslegen, dass Sie das Gesicht dieses Ausländers verloren haben.«
Liangs Wut war wie eine böse Kreatur, die sich in ihm wand. Der Kriecher schien sich zu krümmen, er fletschte die Zähne, seine Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Er ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Shan fallen und öffneteeine flache Schublade. »Haben Sie eine Ahnung, was das hier ist?«, knurrte er und zog einen Vordruck heraus.
Shan erschauderte. Das war das Formular zur Überstellung in ein Gefängnis. Er entgegnete nichts.
»Als hochrangiger Offizier der Öffentlichen Sicherheit kann ich Sie problemlos für ein Jahr wegsperren lassen. Ohne langwierige Anhörungen. Ohne Einspruchsmöglichkeit. Ich habe eine Lieblingsstrafanstalt in der Wüste Takla Makan. Dort hält man stets ein paar Betten für mich frei. Im Winter wird es dort so kalt, dass einem Mann in nur einer Nacht der ganze Fuß abfriert. Und im Sommer wird der Sand dort so heiß, dass man Blasen bekommt, obwohl man Schuhe trägt. Letztes Jahr hat die Sterberate fast fünfundzwanzig Prozent betragen. Es wird Monate dauern, bis auch nur jemand erfährt, wo Sie stecken. Wenn Ihr Jahr sich dem Ende neigt, gibt der Direktor mir Bescheid. Dann vernichte ich das ursprüngliche Formular und fülle ein neues für ein anderes Gefängnis aus. Und im Jahr danach wieder und im Jahr danach wieder. Jedes Jahr unterzeichne ich von Neuem. Bis ich in den Ruhestand gehe. Aber so lange halten Sie nicht durch.«
Liang zündete sich eine Zigarette an und ließ seine Worte wirken. »Sie haben eine Nacht, um darüber nachzudenken. Ich werde veranlassen, dass man Ihnen einen Notizblock gibt. Schreiben Sie alles auf, was Sie wissen, und wir vergessen die Wüste. Für Ihren Angriff auf die Statue müssen Sie bestraft werden, aber das werde ich einfach der Bewaffneten Volkspolizei überlassen. Sie kennen ja das System. Ich würde Ihnen ein politisches Erweckungserlebnis empfehlen. Gestehen Sie Ihre Sünden! Leiten Sie einen tibetischen Chor beim Singen von Parteihymnen an! In ein paar Monaten könnten Sie wieder draußen sein.«
Als man ihn zu dem Zellengebäude aus Betonziegeln im hinteren Teil des Geländes führte, kam Shan an einem kleinenSchuppen vorbei. Er erkannte ihn nach Mengs Beschreibung als den Ort wieder, zu dem man den Leichnam des Deutschen gebracht und mit einem Hammer zerschmettert hatte. Shan schaute zurück zu Liang, der hämisch grinsend am Fenster der Zentrale stand. Er fragte sich, ob der Major die brutale Misshandlung der Leiche einfach nur aus Gehässigkeit angeordnet hatte.
Wie in jedem
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