Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Stoff wickeln und über den Draht werfen, damit sie vielleicht jemand findet.«
»Das ist nicht, was Rutger gewollt hätte.«
Er hätte den Namen nicht noch einmal erwähnen sollen. Die Züge der Frau verhärteten sich. Sie drückte sich an die Wand und schien vor seinen Augen kleiner zu werden. Die Knöchel, die die Perlen hielten, traten weiß hervor.
»Sie müssen mich Ihnen helfen lassen, Cora«, sagte Shan.
Sie schüttelte langsam den Kopf und fing an, sich vor und zurück zu wiegen.
»Bitte. Ihnen ist nicht klar, in welch großer Gefahr Sie sich befinden. Wir haben nicht viel Zeit. Es wird bald hell.«
Sie schien die Männer nicht mehr wahrzunehmen, wirkte wie ein verängstigtes kleines Kind. Shan und Lokesh sahen sich besorgt an. Das Risiko, von den Wachen entdeckt zu werden, stieg mit jeder Minute.
Als die Amerikanerin die Augen öffnete, blickten sie ins Leere. Dann hielt sie in ihrer Bewegung allmählich inne und schaute zu der Laterne. Lokeshs Hand zeigte nach unten, Daumen und kleiner Finger waren abgespreizt, die anderen Finger zum Daumen hin eingerollt.
»Das ist eines dieser Handgebete«, sagte Cora.
»Ein mudra «, bestätigte Shan. »Es ist das Zeichen der gewährten Zuflucht, Cora. Wenn wir während der langen Winternächte frierend und hungernd im Gulag gelegen haben, entzündeten die alten Lamas eine Kerze. Einer ging damit an den Betten entlang, während ein anderer ein mudra formte. Es war wie ein heiliges Ritual, eine alte Überlieferung, die zum Leben erweckt wurde. Sie brachten uns bei, uns darauf zu konzentrieren und alles außer dem nächtlichen mudra zu vergessen. Es hat manche der Gefangenen am Leben erhalten.«
Cora sah ihn an. »Gulag?«
»Lokesh hat den größten Teil seines Lebens in Haft verbracht, weil er einen Posten in der Regierung des Dalai Lama hatte.« Der alte Tibeter sah die Frau immer noch mit heiterer Miene an, und seine Hand bildete weiterhin das mudra . »Dies sind seine Worte an Sie«, erklärte Shan. »Er und ich bieten Ihnen eine Zuflucht an. Sie können alle seine mudras zeichnen. Chenmo wird Ihnen behilflich sein. Er könnte Ihnen von früher erzählen und vom Gefängnis. Das könnte Ihr Buch sein.«
»Eine Zuflucht? Die lassen keinen von hier weg. Es kommen nur immer mehr Häftlinge hinzu.«
»Sie müssen mir helfen, die Wahrheit über die Morde herauszufinden.Hier geht das nicht. Ich brauche Sie in Sicherheit, weg von den Kriechern. Dann können Sie mir von jenem Tag erzählen. Sie waren da, nicht wahr?«
Cora ließ sich mit der Antwort so lange Zeit, dass Shan schon glaubte, sie habe ihm nicht zugehört. »Ich habe so viele Albträume, dass ich gar nicht mehr schlafen will. Die Äbtissin ruft mir nachts etwas zu. Manchmal frage ich mich, was davon mein Albtraum ist und was meine Erinnerung. Es ist, als wäre ich dort gewesen und nicht dort gewesen.«
»Sie waren dort, Cora«, versicherte Shan. »Und Sie müssen sich erinnern. Um Rutgers willen. Sie haben gesehen, wer das getan hat.«
»Sie meinen das Ungeheuer. Das Ding.«
»Das Ungeheuer. Den Mörder. Ja.«
Cora schien erneut zu schrumpfen. Und sie fing wieder an, sich vor und zurück zu wiegen. »Rutger sagt, die Farben müssen genau stimmen. Man kann die alten Mauern nicht einfach rot anstreichen. Es gibt einen besonderen kastanienbraunen Farbton, wie guter tibetischer Boden. Die Tibeter haben Farben, die sie für diesen Zweck aufbewahren. Er nennt es Gebetsrot. Ich habe ein Tor in der falschen Schattierung gestrichen, und er will, dass ich es noch mal mache. Die Äbtissin wird helfen. Sie bringt mir alte Reime bei, in deren Rhythmus wir die Pinsel schwingen.«
Shans Haut kribbelte. Coras Kehle entrang sich ein trockenes, krächzendes Lachen. »Die Äbtissin hat oberhalb der Ruinen einen Fleck mit blühenden Wildblumen gefunden. Wir wollen früher Schluss machen, damit wir dort eine Mahlzeit einnehmen können. Ein Picknick, habe ich zu ihnen gesagt. Die Äbtissin hat das Wort mehrere Male wiederholt, wie ein Mantra. Picknick, Picknick, Picknick. Sie hat gelacht. Sie wollte das Gestell der alten Gebetsmühle fertig anstreichen. Rutger wollte ihr helfen, obwohl sie ihm immer wieder gesagthat, er solle sich in den hinteren Teil des Geländes zurückziehen. Jemand wollte kommen, und er könnte den Mann verscheuchen. Ich sagte, ich würde einige der Gemälde in den kleinen Kapellen abzeichnen.« Coras Stimme erstarb. Dann nahm sie wieder ihr Mantra auf.
»Ein Chinese namens Lung ist gekommen«,
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