Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
hinter dem Speisesaal und den Friedhof jenseits des rückwärtigen Tors anzusehen. Lokesh war nicht bei den Kranken, als Shan dort nachschaute, sondern saß an der Außenwand einer der klapprigen Baracken im Schatten. Shan war sich nicht sicher, ob sein Freund ihn überhaupt bemerkte, als er neben ihm Platz nahm. Lokesh blickte hinaus auf das Gelände und verfolgte, wie die Scharenvon sanften, unschuldigen Tibetern von Pekings Jagdhunden zusammengetrieben wurden. Auf einmal wusste Shan genau, was Lokesh in diesem Moment dachte, und es brach ihm fast das Herz: So sah also das Ende der Welt aus.
Lokesh sagte nichts, als Shan ihn auf die Beine zog und zu der langen Schlange führte, die für das Abendessen anstand, eine wässerige Nudelsuppe.
Nach dem Essen half er Lokesh bei den Patienten in der provisorischen Krankenstation, bis es dunkel wurde. Dann legten sie sich auf einen Strohhaufen am Ende des Gebäudes. Kurz darauf fing sein erschöpfter Freund an zu schnarchen. Shan zog sich in die tiefen Schatten am Rand des Exerzierplatzes zurück und beobachtete die Wachen bei ihren Runden um das Gelände. Sie gingen langsam, redeten miteinander und blieben oft stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Die Wachtürme waren nicht bemannt. Allerdings stiegen die Patrouillen gelegentlich hinauf, um das Lager kurz mit einem Suchscheinwerfer abzuleuchten. Es handelte sich in der Tat nur um ein Übungsgefängnis, genau wie Lokesh gesagt hatte. Die meisten der Wachen hielten sich von den Bunkern fern und machten am Speisesaal kehrt. Einige aber nahmen ihre Gewehre von den Schultern und gingen zumindest ein Stück auf den hinteren Draht zu. In den Bunkern lagen die Sterbenden, und nicht weit entfernt befand sich zudem das offene Massengrab voller infizierter Leichen. Shan wartete, bis eine Streife hinter dem Speisesaal verschwand, und rannte dann auf die Erdhügel zu. Falls er die Amerikanerin nicht binnen der nächsten Stunden fand, würde es womöglich zu spät für sie sein.
Die Kranken in den Bunkern wussten nicht, ob Tag oder Nacht war. Shan stieg hinunter in die erste der stinkenden Kammern und fand sich in einer Kakophonie aus Stöhnen und Mantras wieder. Im trüben Licht der Kerzen sah er vier Tibeter auf Strohlagern liegen. Der erste hielt sich mitschmerzverzerrter Miene den Bauch. Die anderen zitterten vor Fieber. Zwei Frauen, eine davon eine Nonne, kümmerten sich um sie, schöpften Wasser an ihre Lippen und kühlten ihnen die Stirn. Ein alter Mann, dessen Gesicht schweißgebadet war, umklammerte einen tiefblauen Stein. Es war ein Lapislazuli, mit dem man die heilende Gottheit um Hilfe anrief.
»Wie kann ich helfen?«, fragte Shan die Nonne. Sie warf ihm einen kurzen müden Blick zu und wies auf den Toiletteneimer in der Ecke. Shan vergewisserte sich, dass niemand sonst sich im Schatten aufhielt, holte den Eimer und brachte ihn hinaus, um ihn zu entleeren.
Im zweiten Bunker half er beim Wechseln einer Bettstatt und sah zu, wie eine Nonne und ihre Novizin ein Mandala erstellten, ein rundes Sandgemälde, um den Schutz des Lapislazuli-Buddhas zu erbitten. Das leise, gleichmäßige Klopfen gegen die schmalen Sandtrichter rief Erinnerungen an andere solcher heimlichen Mandalas wach. Shan hatte während seiner Haft Männer gekannt, die Prügelstrafen riskiert hatten, nur um solche Bilder anzufertigen.
Entmutigt verließ er den Bunker. Ihm war schmerzlich bewusst, dass die Zeit knapp wurde. Doch als er in den Mondschein trat, ertönte hinter ihm ein leiser Pfiff. Er drehte sich um und sah ein schwaches Licht im Eingang eines der zerfallenden Bunker. Es war Lokesh mit einer Kerze in einem durchlöcherten Blechbecher – eine Gefangenenlaterne, eine der improvisierten Gerätschaften, die sie einst dazu genutzt hatten, illegale Zeremonien in ihrer Lagerbaracke abzuhalten. Plötzlich erhellte ein Suchscheinwerfer des nächstgelegenen Wachturms das Feld. Shan duckte sich und rannte los.
»Wenn sie dich erwischen, werden sie dich verprügeln«, flüsterte Shan, als er seinen Freund erreichte. Das war eine ihrer geheimen Losungen gewesen, um zu den Gefängniszeremonien eingelassen zu werden.
»Sie können nur meinen Körper schlagen«, kam wie ein Reflex die korrekte Erwiderung, zusammen mit einem kurzen Lächeln. Lokesh winkte ihn hinein und zog hinter Shan eine schwere Filzdecke über den Eingang.
Der Bunker war halb zerfallen, das Dach eingesackt, die Luft feucht und muffig. Im ersten Moment glaubte Shan, Lokesh habe
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