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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weggelaufen?«
    Ani Ama seufzte und blickte hinaus auf das Lager. »Ich wollte nicht Äbtissin werden. Ich wollte meine letzten Lebensjahre in Ruhe an einem Webstuhl verbringen. Meine Mutter war eine Weberin und ihre Mutter auch.« Sie schaute der Leiche hinterher, als sie weggetragen wurde. »Als Lung Tso kam, um die Äbtissin um Hilfe zu bitten, war Jamyang gerade bei ihr«, erklärte sie dann. »Er stellte Lung Tso Fragen und war ganzbestürzt, dass ein so junger Mensch sterben musste. Und er nahm die Einladung der Äbtissin an, sie zu begleiten. Der Lama kannte sich nämlich mit den alten Bräuchen aus und wusste, wie man die Gottheiten empfängt. Als wir bei diesem alten Stall eingetroffen sind, hat er sofort angefangen, den Raum zu säubern. Er hat die richtigen Worte gesprochen und Weihrauch für die Götter entzündet. Dann hat er sich dem Leichnam zugewandt und ihn respektvoll und geduldig gereinigt. Aber als er zum Hals kam, hat er aufgekeucht und dann hektisch die Haut mal hierhin, mal dorthin geschoben. Die Äbtissin hat gefragt, was denn los sei, aber er schien sie nicht zu hören.«
    »Und was war da?«, fragte Shan. »Was war an seinem Hals?«
    »Bloß ein Mal. Ein langes, gerades Mal quer über der Kehle, wie eine Quetschung. Der Junge war gestorben, als sein Lastwagen von der Straße abkam und einen steilen Hügel hinunterstürzte. Sein Vater sagte, das Mal stamme vom Lenkrad, das gegen den Hals des Jungen geschlagen sei und ihm außerdem den Brustkorb eingedrückt habe. Doch Jamyang wollte nicht hören. Er war plötzlich wie besessen. Dann ist er ohne ein weiteres Wort weggegangen, und wir haben ihn erst nach mehr als einer Woche wieder zu Gesicht bekommen.«
    »Bei welcher Gelegenheit?«
    »Er ist eines Abends zu uns gekommen und hat allein mit der Äbtissin zusammengesessen. Es sind schroffe Worte gefallen, was keinem der beiden ähnlich gesehen hat. Sie haben ihre Stimmen erhoben. Am nächsten Tag hat die Äbtissin Nachrichten an das Kloster geschickt.«
    »Nachrichten? Was für Nachrichten?«
    Die Nonne schüttelte langsam den Kopf. »Das habe ich nicht begriffen. Mit der ersten hat sie Chenmo losgeschickt, und die hat es mir später verraten. Nur ein Wort. Dharamsala. Sie sollte es im Büro von Chegar auf den Tisch legen. Späteram selben Tag hat die Äbtissin einem Hirten, der vorbeikam, noch eine Nachricht mitgegeben. Am Tag danach ist sie selbst weggegangen und hat gesagt, es dürfe ihr niemand folgen. Aber ich habe sie beobachtet. Unten an der Treppe haben die beiden Ausländer sich ihr angeschlossen.«
    »Und sind zur Klosterruine gegangen«, mutmaßte Shan.
    »In ihren Tod, ja«, sagte Ani Ama erschüttert.
    Alles hatte mit Lungs Sohn angefangen, davon war Shan nun überzeugt. Doch was war dann geschehen? Was hatte Jamyang in der Zwischenzeit getan, bis er Tage später zu der Äbtissin zurückkehrte? Wieso hatte er Lung Tso zum selben Zeitpunkt zur Klosterruine bestellt, war aber selbst nicht hingegangen?
    »Ich habe von der Nacht geträumt, in der Jamyang und die Äbtissin gesprochen haben«, sagte die Nonne. »Und ich verstehe es jetzt. Dieses Gespräch war das Ende. Die beiden haben es zu dem Zeitpunkt nicht gewusst, aber sie knüpften die letzten Knoten ihres jeweiligen Lebensteppichs.«
    »Es war nur der Anfang vom Ende«, widersprach Shan. »Einige Knoten sind noch offen.«
    Ani Ama nickte wehmütig. Sie betrachtete einen Moment lang die Hügel, als halte sie nach einem Hinweis auf die tote Äbtissin Ausschau. »Wir können doch hier nicht einfach zum Tor hinausspazieren«, sagte sie. Es klang irgendwie einladend.
    »Nein«, stimmte Shan ihr zu und blickte in Richtung des verhüllten Leichnams. »Erst musst du sterben.«
    ***
    Die Wachen, die den Beerdigungstrupp eskortierten, wollten nichts mit den Leichen zu tun haben. Sie blieben auf Abstand und sahen angewidert dabei zu, wie Shan und ein halbes Dutzend andere die Toten auf die Schubkarren luden. Dann öffnetendie Polizisten das hintere Tor und traten schnell beiseite. Die Leichen waren mit Krankheiten infiziert.
    Lokesh hatte erklärt, dass jeden Tag bis zu einem halben Dutzend Gefangene starben. Shan, der die letzte Karre schob, schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass es in jener Nacht nur zwei Tote gegeben hatte. Die drei zusätzlichen Leichen waren daher niemandem aufgefallen. Nervös beobachtete Shan, wie die beiden Wachen sich Zigaretten anzündeten. Dann schaute er nach vorn zu dem kleinen Lagerhaus, wo bald Lungs

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