Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
ihn nur gerufen, um mit ihm zu reden, aber dann sah er die kleine graue Gestalt, die in einer Ecke kauerte.
Wortlos setzten sie sich neben sie – Lokesh auf einer Seite, Shan auf der anderen –, und die provisorische Laterne stellten sie vor der Frau auf den Boden. Sie hielt mit zitternden Fingern eine mala umklammert. »Ani!«, rief sie mit heiserer Stimme. »Ani!« Nonne , hieß das, Nonne . Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen.
Lokesh nahm ihre Hand, legte seine Finger über ihre und schob gemeinsam mit ihr erst eine Perle weiter, dann die nächste. Dabei sagte er langsam das mani -Mantra auf, als würde er es einem Kind beibringen.
Die Frau, die furchtsam den fremden Chinesen anstarrte, der neben ihr aufgetaucht war, schien zunächst gar nicht zu registrieren, was Lokesh da machte. Dann fing sie allmählich an – unter häufigen nervösen Blicken zu Shan –, die beiden Hände an den Perlen zu beobachten. Auf ihrer Miene machte sich eine seltsame Verwirrung breit, als begreife sie nicht, wessen Hände das waren, und ihre Finger spannten sich an, als wolle sie sie wegziehen. Dann bemerkte sie das freundliche Gesicht des alten Tibeters und beruhigte sich ein wenig.
So saßen sie einige Minuten da, und die einzigen Geräusche waren das leise Mantra und das Klicken der Perlen.
Schließlich ergriff Shan auf Englisch das Wort. »Lokesh und ich sind manchmal nachts zu den Ruinen gegangen und haben einige der alten Wandgemälde gesäubert. Im Mondlichtfühlte sich das bisweilen so an, als würden die Gottheiten zum Leben erwachen.«
Die Frau reagierte nur zögernd, als sei sie sich nicht sicher, richtig gehört zu haben. Offenbar hatte sie ihre Muttersprache schon lange nicht mehr vernommen. Sie warf einen besorgten Blick auf den Eingang.
»Ich habe eine Mao-Statue demoliert, nur um Sie zu treffen, Cora«, sagte Shan.
Sie schaute wieder zu Lokesh, der mit seinem Mantra nicht aufgehört hatte. Behutsam zog sie ihre Hand weg. Lokesh holte seine eigene mala hervor und setzte das Mantra fort.
»Elfen«, flüsterte sie. »Rutger und mir sind Gemälde aufgefallen, die auf geheimnisvolle Weise über Nacht gereinigt worden waren und vor denen kleine Opfergaben standen. Wir haben gescherzt, es müssten wohl magische Elfen gewesen sein. Der Abt und die Mönche haben mal ein Sandgemälde angefertigt.« Die Amerikanerin blickte auf ihre Gebetskette. »Die Äbtissin hat es am Ende des Tages gesehen und gesagt, irgendwas daran stimme nicht, einige der Gottheiten seien in der falschen Reihenfolge angeordnet. Aber am nächsten Tag war alles korrekt. Manche der Nonnen haben daraufhin von einem Wunder gesprochen, denn die Gottheiten müssten sich von selbst bewegt haben.«
»Das Wunder besteht darin, dass es unter uns noch Menschen aus dem alten Tibet gibt, die sich mit Gottheiten auskennen«, sagte Shan und wies auf Lokesh.
Die Amerikanerin musterte den alten Tibeter, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Spricht er Englisch?«, fragte sie Shan.
»Nein. Lokesh ist der Ansicht, die wichtigsten Dinge sage man ohne Worte.«
Der alte Tibeter murmelte mit geschlossenen Augen sein Mantra. Während Cora ihm dabei zusah, nahm ihre zunächst faszinierte Miene einen bekümmerten Ausdruck an. »Er wurdewegen mir verhaftet. Ich bin gestürzt, als man uns gejagt hat. Er hätte fliehen können, aber er wollte mir helfen. Er hat mich in meinem Gewand für eine Nonne gehalten. Wegen meiner Lüge ist er nun hier.«
Shan begann zu ahnen, welch große Qualen die Frau durchlitt. »Nein. Es hatte nichts mit dem Gewand zu tun, Cora. Sie sind gestürzt. Sie brauchten Hilfe.«
»Und er sitzt nun deshalb in diesem schrecklichen Gefängnis.«
»Lokesh und ich wissen, was ein Gefängnis ist. Das hier ist eher ein Zufluchtsort für Gleichgesinnte.«
Im Blick der Frau flackerte etwas auf und verlosch wieder. »Die Menschen sterben.«
Shan nickte. »Sie und Rutger haben recht daran getan, der Welt von solchen Orten berichten zu wollen.«
Cora blickte erschrocken auf und wollte es anscheinend abstreiten, aber dann schaute sie wieder auf ihre Gebetskette. Eine einzelne Träne rann über ihre Wange. »Rutger war der Fotograf. Ich war die Künstlerin, die Gesichter gezeichnet hat. Angefangen habe ich auf einem Fetzen Papier. Mittlerweile habe ich dreißig Seiten. Ich könnte ein ganzes Buch mit den Gesichtern füllen, die mir hier begegnet sind.«
»Machen Sie das«, sagte Shan. »Geben Sie sie der Welt.«
»Ich wollte sie in ein Stück
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