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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Trinle.
    Diese Seiten könnten eines Tages angeblich wichtig werden. »Worüber haben Ihr Vater und Jamyang gesprochen, wenn sie zusammen waren?«, fragte Shan.
    »Über Geschichte. Und Literatur. Jamyang hat einige der alten tibetischen Gedichte ins Chinesische übersetzt. Manchmal haben sie auch von ihrer persönlichen Geschichte erzählt. Die Lehrtätigkeit meines Vaters. Die Umstände, die uns hergeführt haben. Jamyang hat gern über seine Kindheit auf einem Bauernhof gesprochen, in den Bergen nördlich von hier.«
    »Hat er je von seiner jüngsten Vergangenheit erzählt?«
    »Nicht, dass ich es mitbekommen hätte. Wir wussten ja immer, dass er ein Lama war, ein erfahrener Lehrer. Also muss er in jungen Jahren als Mönch angefangen haben, hat mein Vater gesagt.« Sie zögerte. »Eines Abends ist ein Lastwagen voller Tibeter an uns vorbeigefahren, auf dem Weg zu einem der Lager. Wir haben draußen unter ein paar Bäumen gesessen, gemeinsam mit Jamyang. Er wurde sehr traurig. Nach langem Schweigen hat er meinen Vater gefragt, ob er glauben würde, dass man während seines Lebens für die Sünden einer früheren Existenz bestraft wird. Mein Vater hat nur gelacht und gesagt, Jamyang würde ihn wohl mit einem Lama-Kollegen verwechseln.«
    Shan hielt bei einer Seite inne. Sie las sich wie ein Gebet oder eine Grabrede. So jung gegangen , stand dort, so verwirrt ist ein Geist, der in einem Umfeld der Gewalt großgezogen wurde. Du bist in Bambuswäldern aufgewachsen und stirbst zwischen Fahnenmasten. Eine Hand am Messer, die andere nach deinem Herzen suchend. Hüte dich vor dem Gebet, das Gift bringt. Hüte dich vor der Farbe, die du siehst. Shan las es noch mal und noch mal und wurde immer unruhiger. Es ging um Lungs Sohn, von dessen Leichnam Jamyang so aus der Fassung gebracht worden war. Hüte dich vor dem Gebet, das Gift bringt. Hüte dich vor der Farbe, die du siehst. Jamyang hatte gewusst, dass der Mörder ein Mönch war.
    Das war noch nicht alles. Ganz unten auf der Seite, geschrieben mit anderer Tinte und zu einem späteren Zeitpunkt, standen noch vier Worte. Kaliyuga. Es ist angebrochen . Der Kummer, der Shan bei diesen Worten beinahe übermannte, war so real wie in dem Moment, als er den toten Lama in den Armen gehalten hatte. Kaliyuga war das tibetische Wort für das Ende der Zeit. Jamyang hatte gewusst, dass zumindest das Ende seiner Zeit gekommen war.
    »Wann war das?«, fragte er nach einem langen Moment. »Wann hat er das hier zu Ihnen gebracht?«
    »Vor zwei oder drei Wochen. Er ist immer nachts gekommen. Und manchmal hat er Weihrauch mitgebracht.«
    »Weihrauch?«
    Sansan lächelte betrübt. »Er wusste, dass ich oft krank war. Es kommt vor, dass ich mehrere Minuten lang nicht aufhören kann zu husten. Er hat Dinge gebracht, teilweise aus dem alten Kloster. Ich sagte, wir könnten das nicht annehmen, aber er hat gemeint, die Sachen seien bei uns sicherer als in den Ruinen und dass ich sie nötiger hätte.«
    »Sansan, Sie sprechen in Rätseln.«
    Nach einem kurzen Blick zur Tür des kleinen Schuppens ging sie zur Seitenwand und fing an, mehrere Bretter zu entfernen. Man hatte dort eine zweite Wand eingezogen, die einer oberflächlichen Durchsuchung standhalten und den dahinter verborgenen Hohlraum schützen würde. »Anfangs hat Vater hier seine besonderen Besitztümer aufbewahrt, bevor er sie Jamyang anvertrauen konnte. Als Jamyang uns zum ersten Mal Artefakte brachte, haben wir sie da drinnen einfach in das kleine Regal gestellt. Später hat er gesagt, er habe eine bessere Idee. Er hat eines Nachts hier allein gearbeitet und mich dann mit einer Kerze hergeholt und gesagt, ich solle mich da hinsetzen.« Sie zeigte auf ein ausgefranstes Stück Teppich, das selbst wie ein Artefakt aussah. Dann nahm sie die letzten Bretter weg und hob ihr Licht.
    Jamyang hatte Sansan einen Schrein errichtet. Auf dem unteren Regalbrett standen Opferschalen, mehrere kleine Figuren von Gottheiten und eine Räuchervase. Darüber hing ein verblasstes, aber immer noch elegantes thangka der Lapislazuli-Gottheit Menlha, die man zur Heilung anrief. In ihrer linken Hand hielt sie ein Gefäß mit Nektar, dem Allheilmittel.
    »Er wusste, dass ich nur schwer an meine Medizin komme«, flüsterte Sansan und wischte sich eine Träne von der Wange. »Er hat gesagt, das Bild habe seinem Onkel gehört, einemHeiler, der berühmt für seine Mittel aus Schmucksteinen und Kräutern war. Er sagte, er wünschte, er hätte solche Fähigkeiten, aber

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