Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Anblick nur daran denken, dass dies das letzte Mal war – dass die Wachen seinen Sohn in irgendein unbezeichnetes Grab geworfen haben würden, wenn Shan das nächste Mal zu Besuch kam, und sich nicht mal mehr an den genauen Ort erinnern könnten. An jenem Tag hatte Shan seinen Sohn einfach nur im Arm gehalten und sich vor und zurück gewiegt, während Tränen über seine Wangen rannen.
Er merkte, dass Meng neben ihm saß. Er wusste nicht, wie lange schon. »Wenn Sie nicht bei Tan angerufen hätten …«, setzte er an.
Sie hob eine Hand und ließ ihn verstummen. »Er ist kein sonderlich angenehmer Gesprächspartner«, sagte sie mit mattemLächeln und hielt Shan eine ihrer Tüten mit Sonnenblumenkernen hin.
»Die Beweisstücke«, sagte Shan. »Sind die hier?«
»Eingeschlossen in meinem Aktenschrank.«
»In Lung Mas Tasche hat ein metallener Gegenstand gesteckt. Ich möchte ihn sehen.«
»Sie wissen, dass es Vorschriften über den Umgang mit Beweismitteln gibt. Ich müsste diesen Zugriff vermerken.«
»Das bezieht sich auf Beweise, die vor Gericht vorgelegt werden sollen, Leutnant. In diesem Fall wird es niemals zu einem Prozess kommen. Das wissen Sie.«
Meng schaute in ihre Tüte, als würde sie etwas suchen. »Ich war mal Hauptmann«, sagte sie. »Ich hatte einen Fahrer und Zugang zu den Annehmlichkeiten für höhere Offiziere.«
Er zögerte und fragte sich nicht zum ersten Mal, welchen Teil ihrer Geschichte Meng stets verborgen hielt. »Es tut mir leid. Sie haben recht. Ich kann nicht von Ihnen verlangen, Ihre Karriere zu riskieren.«
Seine Worte schienen Meng zu verletzen. »In meinem Zuständigkeitsbereich wurde ein dreifacher Mord begangen«, erwiderte sie. »Ich habe eine Akte.«
»Sie haben eine Akte«, betonte Shan. »Liang auch? Der Major ist den ganzen weiten Weg hergekommen, aber ich beginne zu glauben, er interessiert sich nur für die Amerikanerin. Sie haben gesagt, er habe das Projektil genommen. Doch ich bezweifle, dass Sie je einen ballistischen Untersuchungsbericht zu Gesicht bekommen haben. Er schert sich nicht um Beweise. Seine Fachgebiete sind Angst und Manipulation.«
»Falls es ihm lediglich um einen politischen Sieg ginge, könnte er den toten Lama zum Täter erklären, genau wie Sie es vorgeschlagen haben«, sagte Meng tonlos. »Aber das hat er nicht getan. Er ist geblieben, obwohl ein anderer dringender Auftrag auf ihn wartet.«
»Er muss bleiben, wegen der Amerikanerin.«
»Er hat gesagt, er müsse nach Rutog.«
»Und zwar weil es dort Unruhen gebe, nachdem ein weiterer Mönch sich angezündet habe. Ich habe aber nichts von einem solchen Selbstmord gehört. Normalerweise spricht sich so etwas unter den Tibetern schnell herum. Und Sie, Leutnant, müssten es mühelos nachprüfen können.«
Meng sagte nichts. Nach einem langen Moment stand sie auf und zog sich ins Gebäude zurück. Shan aß erst die Sonnenblumenkerne in seiner Hand auf, bevor er ihr folgte.
Die Beweisstücke, so spärlich sie auch sein mochten, lagen auf ihrem Schreibtisch. Drei Kleiderbündel in Plastiktüten. Der zerrissene Yakhaar-Halsschmuck der Äbtissin. Lungs Knöchelholster, dazu sein Wagenschlüssel, die Zigaretten und das Stück Metall, das er bei sich getragen hatte. Shan nahm einen Bleistift und schob ihn durch eines der Löcher des trapezförmigen Objekts. Es hatte in der Zigarettenschachtel gesteckt und schien erst kürzlich geschmiedet worden zu sein, auch wenn es eindeutig alt wirken sollte. Die Kante verjüngte sich, war aber nicht wie eine Klinge scharf geschliffen.
»Irgendwas altes Tibetisches«, mutmaßte Meng. »Die Jadekrähen verkaufen Artefakte auf dem Schwarzmarkt. Er muss es bei den Ruinen gefunden haben.«
»Ein tibetischer Gegenstand, ja. Das ist ein Feuereisen. Tibetische Hirten tragen die schon seit Jahrhunderten bei sich, man benutzt sie mit Feuersteinen. Lung Ma hat es mitgebracht. Aber es ist weder alt noch stammt es aus den Ruinen.«
»Sie meinen, es ist eher ein Souvenir, etwas für Touristen.«
»So was in der Art«, sagte Shan unschlüssig.
»Aber weshalb sollte der Anführer der Jadekrähen so etwas in der Tasche haben?«
Shan nahm das Feuereisen und steckte seine Finger durchdie Löcher. Sie passten perfekt. Er tat so, als würde er damit mehrmals gegen einen Feuerstein schlagen. Dann schob er das Metall weiter die Hand hinauf und machte eine andere Bewegung, einen Aufwärtshieb mit nach außen weisender Kante des Feuereisens. »Haben Sie den Leichnam von Lungs
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