Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Doch der Text ist fast vollständig auf Tibetisch verfasst. Jamyang war ein komplizierter Mann. Mein Vater sagt, diese Morde müssen etwas mit Jamyang zu tun gehabt haben und dass auch Sie gewiss dieser Überzeugung seien.« Sie sah Shan flehentlich an. »Er sagt, das Tagebuch sei für die Tibeter bestimmt, aber falls sie daraufhin tätig würden, würde man sie bestrafen. Er sagt, er müsse es verstehen und die darin enthaltenen Antworten nutzen. Wir dürften uns nicht zurücklehnen und nichts tun, wenn in unserer Mitte ein Unrecht begangen würde. Er sagt, Sie hätten es uns gezeigt.«
Shan seufzte. »Ich bin für niemanden ein Vorbild.« Seine Kehle war trocken, die Stimme heiser. »Er kann nicht …« Shan hielt inne, denn ihm fiel das friedliche Schlafzimmer ein, in dem er gelegen hatte. »Er hat zu viel zu verlieren.«
»Wir haben nichts zu verlieren. Indem die Regierung uns hierhin geschickt hat, hat sie uns befreit.«
Shan verspürte einen Stich im Herzen. »Aber begreifen Sie doch … Er hat Sie. Sie haben einander. Sie haben ein Zuhause.« Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dafür verantwortlich zu sein, dass der Professor und seine Tochter getrennt und in den Gulag geschickt wurden.
In der Stille, die folgte, konnte er die Stimmen von drinnen hören, wie sie leise bei Kerzenschein alte Gedichte lasen. Er merkte nicht mal, dass das Mädchen von der Bank aufgestanden war, bis sie wieder zur Tür herauskam und ihren Laptopmitbrachte. Sie bedeutete ihm, ihr zu dem kleinen Geräteschuppen am Ende des Hinterhofs zu folgen.
Drinnen klappte sie den Computer auf der Werkbank auf. Der Schirm erwachte zum Leben, und sie tippte etwas ein. Kurz darauf erschien ein eingescanntes Dokument in Jamyangs vertrauter Handschrift.
»Es sind insgesamt zwei Dutzend Seiten«, sagte die Frau und zeigte ihm, wie man vor- und zurückblätterte. »Manche sind zusammengeheftet, andere von unterschiedlicher Größe, als hätte er genommen, was an Papier gerade zur Verfügung stand.«
Es war nicht wirklich ein Tagebuch, erkannte Shan, als er die Seiten überflog, sondern Notizen, zufällige Einträge über das Leben im Tal, die Arbeit an Jamyangs Schrein und die Gottheiten, die sie mit ihrer Reinigung zum Vorschein brachten. Eine der Seiten war einfach nur eine Liste tibetischer Götter und ihrer Schutzdämonen. Shan zeigte auf einen Farbfleck in der oberen linken Ecke. »Was ist das?«
Sansan fuhr mit dem Cursor über die Seite, drückte eine weitere Taste, und das Bild wurde vergrößert. Es war ein tibetischer chorten in blassroter Tinte, mit einem schweren Hammer darüber.
Betretenes Schweigen machte sich breit.
Shan rieb sich die schmerzende Stirn. »Das hat nichts zu bedeuten«, flüsterte er besorgt. »Er hat einfach den erstbesten Zettel benutzt.«
»Ein heiliges tibetisches Zeichen unter einem Symbol der Kommunistischen Partei? Wo gibt es denn solches Papier?«
Shan antwortete nicht. »Was hat Jamyang gesagt, als er das hier Ihrem Vater gegeben hat?«, fragte er.
»Bloß, dass es wichtig sei. Oder vielmehr«, sagte sie, als würde sie sich korrigieren, »dass es eines Tages wichtig werden könnte. Später hat er mich gebeten, es in meinen Computereinzuscannen, nur für alle Fälle. Ich hätte mir nichts dabei gedacht, aber …«
Shan beendete den Satz für sie. »Aber er ist gestorben.« Er scrollte zu der letzten Seite. Es war eine Liste von Artefakten. Ein Zeremoniendolch mit einem Rubin im Knauf. Eine bronzene Trompete. Drei rituelle Masken mit einer ausführlichen Beschreibung der Dämonen, die sie darstellten. Er kannte die Gegenstände. Sie stammten aus den Klosterruinen. Shan und Lokesh hatten sie Jamyang gezeigt und gemeinsam mit ihm gesäubert und versteckt.
Langsam ging er die anderen Seiten durch. Es gab Listen der Zeremonien, die von den Mönchen und Nonnen im Tal abgehalten wurden, jeweils mit Zeitangaben, dazu Listen der Schreine, die meisten allgemein bekannt, aber manche geheim. Eine Zeichnung zeigte vier junge Tibeter, die ein langes dungchen -Horn bliesen, und die Bildunterschrift lautete Der Klang der Freiheit . Eine Seite, die mit Tinte und Bleistift eindeutig zu verschiedenen Zeitpunkten erstellt worden war, enthielt die Namen von Mönchen und Lamas unter der Überschrift Chegar gompa . Neben vielen der Namen standen Jahreszahlen, manche drei Jahrzehnte her, andere vom Vorjahr. Im unteren Teil der Seite waren drei Namen eingekreist. Abt Norbu und seine beiden Gehilfen Dakpo und
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