Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
leicht den Kopf. »Ich bitte um Verzeihung, Hsien Sheng .« Das hieß so viel wie großer alter Herr und war die respektvolle Anrede für einen Lehrer.
Yuan lächelte nur und drängte Shan, er solle seinen Wein trinken. Die Frau klatschte triumphierend in die Hände.
»Sie müssen sich entscheiden, mit welchen Perlen das Gewand verziert werden soll«, fuhr Shan fort, nachdem er sein Glas geleert hatte. »Ursprünglich waren es rote Korallenperlen, aber Kaiser Qianlong hat gegen Ende seiner Amtszeit verfügt,dass es fortan weiße Perlen aus der Mandschurei sein sollten.«
Die Gruppe gab ein kollektives respektvolles Raunen von sich und ging sogleich zu einer angeregten Diskussion des Hofzeremoniells über. Als Shan erwähnte, dass er in Peking einst während seiner Freizeit jahrelang jeden Winkel der Verbotenen Stadt erkundet hatte, schenkten sie ihm Wein nach und überschütteten ihn begeistert mit weiteren Fragen über die korrekte Rangfolge in kaiserlichen Prozessionen, die Zeremonien für die Errichtung neuer Tempel, Wettbewerbe im Bogenschießen und ein Dutzend anderer Aspekte des höfischen Lebens.
Sansan brachte unterdessen Tee, und das Gespräch wendete sich alten Gedichten und Heldensagen zu. »Mir hat Sung Chiang immer am besten gefallen«, sagte sie.
Professorin Chou, eine frühere Literaturdozentin, nickte. » Die Rebellen vom Liang Shan Po .« Das war der Titel eines Romans aus der Ming-Dynastie über den Geächteten Sung Chiang, der von seinem Versteck im Moor aus die Bauern gegen Unrecht verteidigte.
»Geschichte und Helden wiederholen sich«, stellte Professor Yuan fest.
Shan merkte auf einmal, dass alle ihn grinsend ansahen. Er wurde rot, murmelte eine Entschuldigung, stand auf und floh zur Küchentür hinaus.
Er setzte sich auf eine Bank an der Rückwand des Hauses und verfolgte, wie der Mond über den vertrockneten, dürren Bäumen aufging. In Gedanken war er in den Bergen, bei dem kleinen Haus, das Lokesh und Cora Michener, so hoffte er inständig, nun als sicheres Versteck diente.
»Die hartnäckigsten Mythen basieren alle auf Fakten.«
Er zuckte bei den unerwarteten Worten jäh zusammen. Als er aufblickte, stand die Tochter des Professors neben der Bank.
Sansan fuhr fort, ohne auf eine Erwiderung zu warten. »Mein Vater sagt: Wenn man in Tibet genau genug hinschaut, kann man die Mythen zum Leben erwachen sehen.«
Shan sagte nichts, sondern rückte lediglich ein Stück zur Seite, damit sie sich neben ihn setzen konnte.
»Robin Hood, der Räuber aus dem Wald«, sagte sie. »Er war das westliche Gegenstück zu Sung Chiang, dem Geächteten aus dem Moor. Die beiden haben es gewagt, sich gegen die Regierung zu stellen, und sie haben für Gerechtigkeit gesorgt, als niemand sonst wusste, wie man sie erlangen konnte.«
»Ich bin kein Sung Chiang«, flüsterte Shan.
Sansan schien ihn nicht zu hören. »In den großen Städten herrscht so viel Lärm und Chaos. Alles bewegt sich so schnell. Da verliert man leicht die wichtigen Dinge aus dem Blick. Hier haben wir gelernt, die Ruhe zu kultivieren, wie die alten Konfuzianer sagen würden, so dass stets Zeit für die wichtigen Dinge bleibt. Die Menschen hier sprechen über Gottheiten, als wären es die Nachbarn von nebenan. Sie sprechen über Mythen, als wären es bloß Familiengeschichten.«
Shan sah das Mädchen an. Sie war die Rädelsführerin der Dissidenten gewesen, der Grund, aus dem all die Familien nach Tibet verbannt worden waren. Sie sah wie ein Schulmädchen aus, sprach aber so gemessen und weise wie eine sehr viel ältere Frau.
Sie erwiderte seinen Blick. »Sie geben den Menschen dieses Tals den Glauben an Helden zurück.«
»Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.«
Sansan zuckte die Achseln. »Dann lassen Sie uns einfach sagen, Sie regen sie an, tätig zu werden. Ihretwegen mache ich mir Sorgen um meinen Vater.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Er sagt, wir können nicht einfach danebenstehen und nichts tun.« Sie blickte merkwürdig sehnsüchtig zum Mondempor. »Wir haben sehr wenig Geld. Er isst nur Reis und spart wie besessen, um Bücher zu kaufen oder Tinte und Pinsel für seine Kalligraphie. Einen Teil davon, genug für ein Dutzend Bücher, hat er diesem hinkenden Hirten angeboten, Jigten.«
Shan erschauderte. »Zu welchem Zweck?«
»Damit er ein kleines Tagebuch übersetzt, das Jamyang meinem Vater zur Aufbewahrung gegeben hat. Es war wie ein Handel. Jamyang hat unsere Artefakte beschützt und wir seine Aufzeichnungen.
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