Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Routine zurückkehren, sobald der Aufruhr sich legte. Die Schwierigkeiten hörten vielleicht nie wieder auf. Das Tal würde in der Form, die es jahrhundertelang gehabt hatte, nicht länger bestehen können, und sein Niedergang würde die Kluft zwischen Lokesh und Shan vertiefen.
Als er den Dorfrand erreichte, fiel ihm ein leises gleichmäßiges Rattern auf. Es kam aus einem langen Holzgebäude, das zweifellos einst eine Scheune für das Kloster gewesen war. Mit behutsamen Schritten trat er ein und folgte dem Geräusch zu einer Box im hinteren Teil. Die Tibeterin, die die Gerste gemahlen hatte, drehte nun eine tragbare Gebetsmühle. Sie blickte dabei in die dunklen Schatten an der Rückwand der Box. Shan benötigte einen Moment, bis er dort den alten Mann erkannte. Patrul saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem niedrigen Tisch, die blicklosen Augen nach unten gerichtet, und sah eher wie eine Altarstatue als wie ein lebendiger Mensch aus. Vor ihm lag – wie eine Opfergabe – ein betagter brauner Mastiff.
Shan sagte nichts, rührte sich nicht, wollte die Frau nicht in ihrem Tun unterbrechen. Patruls Hand gab für eine Sekunde das mudra auf und bedeutete Shan, er möge sich setzen.
»Dein Tibetisch ist gut«, verkündete der alte Mann. »Es ist mir sonst immer gelungen, einen Chinesen zu spüren. Bei dir nicht. Warum wohl?«
»Ich habe mich während der letzten Monate in gutem tibetischen Schlamm gewälzt.«
Der Blinde lächelte heiter.
»Rinpoche«, sagte Shan. »Ich hatte einen Freund, einen Einsiedler, der letzten Monat ganz plötzlich verstorben ist. Er braucht meine Hilfe.«
Shan wusste es besser, als mit einer schnellen Antwort zu rechnen. Der alte Mann schien mit blinden Augen seine Finger zu betrachten und legte dann eine Hand auf den Kopf des großen braunen Hundes, der sofort die Augen öffnete und Shan ansah. Er hatte das unheimliche Gefühl, dass der alte Lama die Augen des Tieres anstelle seiner eigenen benutzte.
»Jamyang war auch mein Freund«, sagte der alte Lehrer. »Erst kam die Nachricht von seinem Tod. Dann von dem der anderen. Es war ein Sturm des Todes an jenem Tag.«
»Sie brauchen uns immer noch«, sagte Shan und richtete die Worte unwillkürlich an den Hund.
»Wir brauchen sie immer noch.«
Shan überlegte. Das waren die perfekten Worte, genau das, was gesagt werden musste. »Ich glaube, die Todesfälle hatten miteinander zu tun«, sagte er.
»Die Gottheiten haben sie an einem anderen Ort benötigt, alle auf einmal.« Es war die Art des alten Abtes, ihm beizupflichten.
»Als die Äbtissin und die anderen zwei in dem Kloster gestorben sind, war ein Mönch zugegen.«
Der Hund blinzelte.
»Bist du eine Art Polizist?«, fragte der Blinde. Die Frau hörte auf, die Gebetsmühle zu drehen.
»Ich bin ein Pilger.«
»Er ist derjenige, der gemeinsam mit Lokesh Gräben aushebt, Rinpoche«, warf die Frau ein.
Die Miene des alten Mannes hellte sich auf. »Du bist fast ums Leben gekommen, als du das Lamm aus dem Treibsand gerettet hast. Es heißt, du hättest bis zu den Schultern in dem Loch gesteckt.« Ein merkwürdiges Schnaufen entrang sich seinerKehle. Es dauerte einen Moment, bis Shan es als Lachen erkannte.
»Weder dem Lamm noch mir war an jenem Tag der Tod vorherbestimmt.«
»Mit solchen Taten erwirbst du dir große Verdienste.«
»Lokesh hat gesagt, mit der Zeit würde ich begreifen, dass in Wahrheit das Lamm mich gerettet hat.«
Der ehemalige Abt nickte langsam. »Ein Mann kann sich mühelos ein Gewand überstreifen. Es kann vieles bedeuten.« Sie sprachen nun wieder über die Morde.
»Wo ist der Mönch Dakpo?«
Der Hund hob den Kopf.
»Dakpo hat die Berge überquert. Er weiß, dass er vor dem Vollmond zurück sein muss.«
»Er ist in Indien?« Dakpo habe einen Onkel in der Exilregierung, hatte die alte Frau erzählt.
»In der anderen Richtung.«
Shan runzelte die Stirn. Die andere Richtung, das hieß Norden oder Osten, tiefer nach Tibet hinein. Vollmond war in fünf Tagen. Dakpo hatte sich Patrul anvertraut, aber nicht Norbu. »Warum ist er ohne die Erlaubnis des Abtes aufgebrochen?«, fragte er zögernd.
»Ohne die Erlaubnis der Behörden«, sagte Patrul, als wolle er ihn berichtigen. Shan hielt sich vor Augen, dass manche Klöster für Reisen ihrer Mönche offizielle Passierscheine beantragen mussten. Dakpo hatte nicht gewollt, dass die Regierung davon erfuhr. Oder sollte vor allem Major Liang nichts erfahren?
»Rinpoche, du hast Jamyang als deinen Freund
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