Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
den Steinplatten nieder und blickte zu dem Blinden auf.
Der alte Mann, dem Shan in den Tempel geholfen hatte, war mehr als nur ein weiterer frommer Besucher. Der Abt erwies ihm seine Reverenz. Die Weste des Blinden hatte sich geöffnet, und Shan sah nun das gau , das um seinen Hals hing. Es war mit einem kastanienbraunen Stoffstreifen umwickelt, dem Zeichen eines früheren oder illegalen Mönches. Während Shan in das heitere Gesicht des Mannes blickte und der stillen Inbrunst seiner Stimme lauschte, wurde ihm klar, dass er mehr als ein Mönch war. Er musste ein Lama sein, ein Lehrer, ein Anführer, der nun die Wunden der Mönche heilte.
Shan wagte einen Blick auf Norbu. Er begriff nun, weshalb die Mönche ihrem Abt so zugetan und absolut loyal waren. Der Mann wusste, wie man die Öffentliche Sicherheit beschwichtigte, aber im Beisein seiner Gemeinde zeigte er sein wahres Gesicht. Er erhielt die alten Bräuche am Leben und schürte den Funken, den Peking so unbedingt ersticken wollte. Und das ausgerechnet in einem Dorf, das offensichtlich unter strikter Überwachung der Kriecher stand. Was er machte, war leichtsinnig, aber es brachte ihm eindeutig die Zuneigung der Gläubigen ein. Sie würden die chinesische Flagge und die Treueide vermeintlich tolerieren, denn sie wussten, was hinter verschlossenen Türen passierte.
Am Ende der Zeremonie stand der Abt auf, versteckte die Glocke, den Dämon und die Flagge und führte die Mönche dann nach draußen. Shan blieb, bis der Raum sich fast geleert hatte, trat an den Altar, wo Norbus Gehilfe Trinle neue Butterlampen entzündete, und ging ihm schweigend zur Hand.
»Ich dachte, ich würde den Blinden führen«, sagte er nach einer Weile. »Doch nun weiß ich, dass er mich geführt hat.«
Trinle warf einen Blick zur Tür hinaus, bevor er antwortete. »Was er tut, ist sehr mutig«, sagte er. »Schon allein hierher zurückzukehren war mutig.«
»Hierher zurückzukehren?«, fragte Shan verwirrt.
Der Mönch arbeitete unterdessen weiter. »Er hat zehn Ketten für seinen Widerstand gegen die Treueide bekommen. Manch anderer hätte lediglich sein Gewand verloren. Doch wenn es ein Abt ist, müssen sie ein Exempel statuieren. Sie haben ihn früher rausgelassen.«
Shan konnte nicht ganz folgen. Zehn Ketten. Wenn ein inhaftierter Mönch Anhänger oder Familienmitglieder zurückließ, würden sie versuchen, ihm jedes Jahr eine neue Gebetskette zu schicken. Aber ein Gegner der Treueide konnte normalerweise nicht auf eine vorzeitige Entlassung hoffen. »Was war der Anlass?«
»Er ist erblindet. Es war ein großer Tag für uns, als Norbu zum ersten Mal hier eingetroffen ist, in der einen Hand die Drachenglocke, an der anderen den alten Patrul.«
»Patrul war der Abt dieses gompa ?«
Der Mönch hielt inne und nickte. »Abt reicht als Beschreibung eigentlich nicht aus. Patrul war einer vom alten Schlag. Eines der Originale.« Das hieß, der Blinde war schon im alten Tibet ein heiliger Mann gewesen, noch vor der Ankunft der Chinesen. »Der Einzige, den die meisten von uns je zu Gesicht bekommen haben.«
Hinter Chegar gompa steckte in der Tat mehr, als man meinen mochte.
»Ich heiße Shan«, sagte er. »Du bist Trinle. Ich habe dich und Dakpo gemeinsam mit Abt Norbu bei Tausend Stufen getroffen.«
Der Mönch nickte erneut. »Ich habe dich hin und wieder mit Jamyang in dem alten Kloster gesehen. Stimmt es, dass er sein Gesicht weggeworfen hat?«
»Er ist am selben Tag gestorben wie die Äbtissin und die anderen.«
Trinle seufzte bedauernd auf. »Die Götter müssen an jenem Tag abgelenkt gewesen sein.«
»Es war ein schlimmer Tag«, pflichtete Shan ihm bei. »Keiner der Gestorbenen war auf seinen Tod vorbereitet. Sie haben das Recht, den Grund zu erfahren.«
Trinle musterte ihn einen Moment. Shans auffordernder Tonfall war ihm nicht entgangen. »Das ist Sache der Behörden. Uns Mönchen wird beigebracht, sich nicht in Regierungsangelegenheiten einzumischen.«
»Für einen Ort, der sich aus derartigen Dingen heraushält, bekommt ihr hier aber ziemlich viel offiziellen Besuch.«
Trinle richtete sich auf und sah ihn mit sachlicher Miene an. »Man bekommt Dämonen am besten in den Griff, indem man sie in die Gesellschaft von Schutzdämonen lockt.«
Shan erwiderte den Blick. »Der Dämon, der die Äbtissin und die anderen ermordet hat, wird nicht freiwillig kommen. Hilf mir, ihn zu finden.«
Trinle schaute besorgt zur Tür. »Dies ist ein Ort der Andacht. Warum willst du hier nach
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