Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
ihm suchen?«
»Weil jemand in einem Mönchsgewand an jenem Tag dort gewesen ist. Er war der Mörder.«
Trinle starrte ihn ungläubig an. »Nein. Ich könnte mir eine dieser grauen Uniformen anziehen. Das würde aus mir aber keinen Kriecher machen.«
»Ob nun echter oder falscher Mönch, falls die Behörden dahinterkommen, werden sie den gompas die Schuld geben. Es war jemand, der überzeugend gewirkt und sich ungezwungen in dem Gewand bewegt hat. Ein Tibeter mit dem kurzen Haar eines Mönches. Sag mir, Trinle, ist jemand im Laufe des letzten Jahres aus dem Kloster ausgeschieden?«
Die Frage beunruhigte Trinle. »Einer ist rübergegangen.«
»Du meinst, er ist gestorben?«
»Nein, rüber nach Indien. Er ist jetzt in Sicherheit und arbeitet für die Regierung des Dalai Lama.«
Shan rief sich ins Gedächtnis, dass Chenmo von purbas im Tal gesprochen hatte, den Widerstandskämpfern, die aus Indien nach Tibet kamen. Chegar hatte nun einen Mönch in der Exilregierung. Die strenge Überwachung durch die Öffentliche Sicherheit ergab allmählich mehr Sinn.
Draußen unterbrach ein Lautsprecher die Stille des Innenhofs, erst mit statischem Rauschen, dann mit der mehrfach wiederholten Aufforderung, ein bestimmter Mönch möge sich beim Torhaus melden. Shan kannte den Namen. Dakpo.
Trinle ging zum Eingang und spähte vorsichtig um die Ecke in den Innenhof. Die Stimme aus dem Lautsprecher wurde langsam ungehalten und rief abermals nach dem Mönch. Trinles Miene umwölkte sich.
»Wird Dakpo vermisst?«, fragte Shan.
»Er ist nicht da.«
Shan hörte ihm die Anspannung an. »Du meinst, er hat sich unerlaubt entfernt.«
Trinle verfolgte die Aktivität im Innenhof und hielt sich am Türrahmen fest, als müsse er sich stützen. Mönche eilten in die Gebäude. »Er ist anderswo unterwegs. Falls der Abt sie nicht beruhigen kann, werden sie hier alle Räume durchsuchen.«
»Und verbotene Gegenstände finden«, behauptete Shan.
Trinle drehte sich mit trotzigem Blick zu ihm um. »Wir in Chegar gompa sind wahre Mönche.«
Etwas an seinem Tonfall ließ Shan aufmerken. In jedem gompa gab es geheime, illegale Fotos des Dalai Lama. Und wie Shan inzwischen wusste, konnte Chegar sogar mit einer Flagge des unabhängigen Tibet aufwarten. Trinle schien etwas anderes zu meinen.
Shan schaute zum Versteck des Schutzdämons. Die Statuewar sehr alt und überaus wertvoll. »Falls sie tatsächlich alles durchsuchen, stell den Schutzdämon einfach auf den Altar, und häng ihm ein paar khatas um. Die Kriecher wissen doch gar nicht, was sie da vor sich sehen.«
Trinle überlegte kurz und nickte dann. Shan trat hinaus auf den Innenhof.
Norbu beriet sich dringlich mit einem anderen Mönch in der Nähe des Tors. Shan schob sich mit gesenktem Kopf im Schatten der gegenüberliegenden Mauer entlang und mischte sich unter die Handvoll Dörfler, die hier an den Schreinen ihre Ehrerbietung bezeigte. Er konnte nur Bruchstücke der Unterredung verstehen. Norbu war eindeutig aufgeregt.
»Wie lange?«, fragte der Abt. »Wie lange wird er schon vermisst?«
»Er ist vor zwei Nächten verschwunden. Nach Mitternacht.«
Shan warf dem Mönch einen Blick zu. Der Mann hatte Angst. Norbu schützte das gompa vor der Öffentlichen Sicherheit, indem er strikte Kontrolle ausübte. Ein einziger Mönch auf Irrwegen könnte alles aus dem Gleichgewicht bringen.
Shan ging näher heran.
»Vielleicht ist er auf einem Pilgerpfad unterwegs, um dort die Schreine zu besuchen«, gab der Mönch zu bedenken.
Norbu schien ein Stoßgebet zu murmeln. »Er hat sich zur Meditation in die Berge zurückgezogen«, verkündete der Abt etwas lauter, als würde er den Text einstudieren. »Nach seiner Rückkehr wird er seinen Treueid mit Freuden erneuern.« Norbu zog sein Gewand zurecht und kehrte zu den wartenden Kriechern zurück.
Während die Beamten sich um den Abt scharten, stahl Shan sich zum Tor hinaus und ins Dorf.
Wie in vielen solcher gompa -Dörfer liefen auch hier in der Nähe des Tors die alten Pilgerpfade zusammen. Shan ertappte sich dabei, dass er, ohne darüber nachzudenken, an den kleinenStationen der Hauptstraße innehielt, viele davon nicht mehr als Haufen aus mani -Steinen. So machten er und Lokesh das immer, und ihm wurde mal wieder bewusst, wie sehr er den alten Tibeter vermisste. Die letzten Monate, die sie fast rund um die Uhr zusammen verbracht hatten, waren ein Segen gewesen, und er hütete sich vor der Hoffnung, er könne zu jener einfachen, friedlichen
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