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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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bezeichnet«, sagte Shan. »War er ein neuer Freund oder ein alter Freund?«
    »Wir waren uns nicht sicher, er und ich.« Das war eine überaus tibetische Antwort. »Als er ins Tal kam, hat er all die Pilgerpfade bereist, und da sind wir uns eines Tages oben auf demBerg begegnet. Er hat den Tag mit Dakpo und mir verbracht, hat mit uns gebetet und die alten Schreine entlang der Pfade gereinigt. Ich habe ihn ins gompa eingeladen. Er hat abgelehnt und gesagt, er sei zu einem Geschöpf der hohen Pfade geworden, so wie eine der wilden Ziegen. Und er sagte, er fühle sich unserem Tal sehr verbunden, als wäre er schon mal hier gewesen. Ich habe ihn daran erinnert, dass über die Jahrhunderte viele sanftmütige Seelen wie seine in unserem Kloster gelebt hätten. Er war sich an jenem Tag nicht sicher, aber im Laufe der Zeit schien in ihm die Überzeugung zu wachsen, dass er tatsächlich nicht zum ersten Mal hier war und aus der Vergangenheit dem gompa immer noch etwas schuldig sei.«
    »Das hat er gesagt? Etwas schuldig?«
    Der alte Mann lächelte wieder, senkte den Kopf und streichelte den Hund. »Ich sagte ihm, die Frommen seien ganz Tibet etwas schuldig.«
    »Ganz Tibet, wo auch immer es liegen mag«, erwiderte Shan nach einem Moment.
    Patrul wandte sich mit überraschter Miene wieder ihm zu. Es hatte fast den Anschein, als könne er mit einem Mal sehen. Seine Augen richteten sich durchdringend auf Shan und schienen nicht etwa sein Gesicht, sondern etwas dahinter zu fixieren. »In Tibet gab es früher Tempel der Erdbändigung, um die Dämonen zu unterwerfen, die das Land bedrohten. Für uns heute sind sie verloren, aber es gibt neue, geheime Gegenstücke.« Er beugte sich vor. Seine letzten Worte waren ein flehentliches Flüstern. »Bist du der Dämonenbezwinger, um den wir gebetet haben, Shan?«
    ***
    Shan versteckte das Motorrad zwischen den Felsen und machte sich an den langen Aufstieg zu Jamyangs Schrein. Der Besuchin dem Kloster war seltsam beunruhigend verlaufen. Patrul hatte ihm mitzuteilen versucht, dass eine geheime Verbindung zwischen Chegar und Dharamsala existierte. Die Spur eines Mörders hatte ihn zu tibetischen Freiheitskämpfern geführt. Shan wollte auf keinen Fall riskieren, dass die Entlarvung des Täters eine Gefahr für die Dissidenten bedeutete. Liang hingegen wäre von einer solchen Gelegenheit begeistert. Einen Mörder in einer Brutstätte der Abweichler zu enttarnen, würde ihm die nächste Beförderung einbringen.
    Shan blieb an einer Wegkreuzung stehen; er erkannte den alten Pilgerpfad. Seine letzten Stunden mit Jamyang ließen ihn nicht los. Es waren Worte gefallen, die er bis heute nicht verstanden hatte. Von dem Punkt aus, an dem er nun stand, konnte er gerade noch die kleine flache Stelle ausmachen, an der Jamyang ihn hatte anhalten lassen und wo der Lama sich bäuchlings vor dem Berg niedergeworfen hatte. Shan legte seine Hand auf einen Haufen aus mani -Steinen, verweilte einen Moment, als würde er sie um Rat fragen, und bog dann auf den Pfad ein.
    Als er die flache Stelle erreichte, ging er zur nahen Straße und bemühte sich, jede von Jamyangs Bewegungen zu rekonstruieren. Der Lama hatte Shans eigene Worte wiederholt und ihn gewarnt, ihm seien die Gefahren des Tals nicht bewusst. Dann hatte er ihn gebeten, bei den Steinhaufen anzuhalten, von denen aus die Pilger mit dem mächtigen Berg kommunizierten, der das Tal beschützte. Patrul hatte gesagt, Jamyang habe sich dem Tal verbunden gefühlt, als sei er ihm noch etwas schuldig. Er hatte an jedem der Steinhaufen gebetet und …
    Shan erstarrte. Der Wind hatte für einen Moment nachgelassen, und er hörte ein neues Geräusch, ein leises, schnelles Murmeln von jenseits der Kante des Simses.
    Shan näherte sich wachsam und sah nun, dass ein Ende der Schnur mit Gebetsfahnen, die von Jamyang hier hinterlassenworden war, sich aus ihrer Verankerung gelöst hatte und über die Kante baumelte. Als er die weißhaarige Gestalt erblickte, die am Ende der Leine auf dem steilen Hang kauerte, konnte er es im ersten Moment kaum fassen. Dann kletterte er vorsichtig hinunter und gesellte sich hinzu.
    Lokesh hielt die letzte Gebetsfahne der Reihe fest umklammert. Er nickte, als Shan sich neben ihn setzte. Das Schweigen, das Lokeshs Worten häufig vorausging, war für Shan inzwischen eine Art Segnung, ein ehrerbietiges Innehalten.
    »Sein Leben hätte auf jeden Fall diesen Verlauf genommen«, sagte der alte Tibeter schließlich. »Es gab für dich zu keinem

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