Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
konnte. Als er die Augen schloss, wurde er von Erinnerungen übermannt.
***
Das Besuchszimmer wurde im Winter absichtlich nicht beheizt, damit die Besucher möglichst wenig Zeit mit ihren inhaftierten Angehörigen verbrachten. Shan und Ko teiltensich den Raum mit einer alten Frau und ihrem abgemagerten Mann, der mehr hustete als redete, bis sie es aufgab und neben ihm nur noch Mantras murmelte.
Shan erinnerte sich an alles, an jede noch so kleine Einzelheit jeder einzigen Minute in diesem Raum. Und diese Erinnerungen kamen unerwartet, unaufgefordert und oft auch unerwünscht.
»Wir haben an einem Straßenbett gearbeitet, als einer der Männer auf ein Nest mit Käfern gestoßen ist«, erzählte Ko. Er sprach immer sehr leise, geschult durch Jahre der Gefangenschaft. »Er hat sie in seiner Socke mitgenommen und am Abend verkauft, damit die Männer sie sich am nächsten Morgen in den Gerstenbrei mischen konnten.« Shan kannte das von vielen Sträflingen aus seiner eigenen Haftzeit. Insekten bedeuteten Proteine. »Ich habe mir einen besorgt, ein großes, dickes schwarzes Exemplar, im Tausch gegen einen violetten Stein, den ich gefunden hatte. Doch in jener Nacht hat ein Lama gesagt, dass die Seelen derjenigen, die es als Menschen am schwersten hätten, manchmal als Käfer zurückkämen. Er hat einen der Käfer genommen und angefangen, ein Mantra über ihn zu sprechen. Das Ding hat ihn zuerst nur angestarrt und sich nicht gerührt, aber dann – und ich konnte das selbst kaum glauben – hat es doch tatsächlich die Vorderbeine aneinandergelegt, als würde es beten. Am Morgen sind alle Tibeter zum Zaun gegangen und haben ihre Käfer freigelassen. Dann haben sie mich angesehen, und ich habe so getan, als wollte ich mir den Käfer in den Mund stecken. Da haben sie aufgeregt durcheinandergerufen und angefangen, mir neue Steine für meinen fetten Brummer anzubieten. Rote Steine, gelbe Steine, blaue Steine. Nur der Lama hat kein Gebot abgegeben. Er ist einfach zu mir gekommen und hat mich mit einem Finger an der Stirn berührt.«
»Was hast du gemacht?«, fragte Shan.
»Ich hab den kleinen Kerl freigelassen. All die Steine hätten doch bloß meine Taschen ausgebeult.«
Sie sahen einander schweigend an. Dann grinste Ko, und Shan grinste zurück, von Häftling zu Häftling.
***
»Ich hatte gehofft, Sie hier anzutreffen.«
Shan schreckte aus seinem Traum hoch und sah Professor Yuan neben sich sitzen.
»Wenn ich in Harbin allein über die Welt nachdenken wollte, bin ich immer auf das Dach unseres Mietshauses gestiegen.« Er wies mit ausholender Geste auf das Panorama aus wogenden blühenden Hügeln und dem majestätischen Yangon, der hinter ihnen aufragte. »Alles in allem gefällt mir das hier etwas besser als Schornsteine und Schnellstraßen.«
»Ihre Tafeln sind vorläufig sicher, Professor, aber ich kann keine Verantwortung dafür übernehmen. Hier könnten jederzeit andere Leute auftauchen.«
Professor Yuan ignorierte Shans Worte. Er griff unter sein Hemd und holte ein zusammengerolltes Handtuch hervor. Es war alt und nicht mehr sauber, aber er behandelte es wie einen Schatz und strich es behutsam auf seinem Schoß glatt. »Er war einer von wenigen Auserwählten, unser Yuan Yi. Ein Zensor sehr hohen Ranges am Hof des Kaisers Kangxi. Gewiss ist Ihnen bekannt, was es mit den Zensoren auf sich hatte.«
»Es gab im Kaiserreich viele Tausend Beamte, die von wenigen Hundert Zensoren überwacht wurden, damit sie rechtschaffen blieben.« Die Berufsbezeichnung war von der heutigen chinesischen Regierung pervertiert worden, aber ursprünglich hatten die Zensoren zur Elite der Beamtenschaft gezählt.
»Genau.« Yuan nahm das Handtuch und schob seine Finger in die Säume. »Für einen solchen Mann war der Dienst eineheilige Pflicht. Er hat zahlreiche korrupte Beamte überführt und sich dabei viele Feinde gemacht. Im zwanzigsten Jahr seiner Amtszeit wurde er zu Ermittlungen in eine der nordöstlichen Provinzen geschickt, die Mandschurei, zugleich Heimat der Dynastie des Kaisers. Er fand heraus, dass die gesamte Provinz von verbrecherischen Machenschaften durchsetzt war, angeführt vom Gouverneur höchstpersönlich, der ein Drittel der dem Kaiser zustehenden Abgaben für sich selbst abzweigte. Als Yuan Yi nach Peking zurückkehrte und den Beratern des Kaisers Bericht erstattete, wurde er verhaftet, selbst der Korruption angeklagt und zum Tod durch Enthauptung verurteilt. In der Nacht vor seiner Hinrichtung kam ein alter
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