Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Zeitpunkt eine Gelegenheit, das zu ändern.« Er sprach, als müsse Shan getröstet werden. »Chenmo und Ani Ama sind gekommen und passen auf die Amerikanerin auf«, fügte er hinzu, weil ihm Shans fragende Miene aufgefallen war.
Shan schaute zu der Fahne. Lokesh machte wieder mal genau das Gleiche wie er, nur auf völlig andere Weise. Der alte Tibeter war hergekommen, um Jamyang zu verstehen. Shan und Jamyang hatten es hier eilig gehabt, und er hatte nicht auf die Fahnen des Lama geachtet, sondern war einfach davon ausgegangen, es handle sich um herkömmliche Exemplare mit dem mani -Mantra. Nun nahm er eine in die Hand und bemerkte etwas Unerwartetes, eine kunstvoll gezeichnete, ungewohnte Gottheit.
»Es sind fünfunddreißig Fahnen«, sagte Lokesh, als sei die Anzahl von Bedeutung. »Ich habe ihn hieran arbeiten gesehen. Ich dachte, sie wären für den Schrein bestimmt.«
Shan sah sich eine weitere der Fahnen an und dann noch eine. Jede trug ein anderes Bild, und immer handelte es sich um eine sorgfältig gezeichnete Gottheit in unterschiedlichen Farben und Formen. Jede Einzelne musste mehrere Stunden Arbeit erfordert haben.
»Dies war die Erste«, erklärte Lokesh und zeigte auf die weiße,reich verzierte Gottheit am Ende der Schnur. »Vajrasattva. So fängt es an.« Er wies auf die Worte unter dem Bild.
» Namo gurubhay, namo buddhaya «, las Shan und blickte dann fragend auf.
»Manche nennen es das Gebet der Zuflucht, andere das Gebet der Reue. Es ist der Anfang des Rituals und wendet sich an den ersten der Buddhas der Bekenntnis. Es gibt insgesamt fünfunddreißig. Jeder von ihnen muss angerufen werden, um sich von einer verderblichen Tat zu läutern. Und dazu bedarf es jeweils vieler Tausend Mantras. Ich weiß noch, wie müde Jamyang letzten Monat immer gewirkt hat.«
Shan nickte. »Um das hier anzufertigen, kann er kaum geschlafen haben.«
Lokesh betrachtete abermals die erste Gottheit, wie in stummem Gebet versunken. Dann seufzte er. »Wir sollten nach oben steigen und die Leine wieder so befestigen, wie Jamyang es beabsichtigt hatte.«
Shan erhob sich und half Lokesh den Hang hinauf. Sie banden die Schnur fest um den größten Stein, den sie finden konnten, und legten ihn auf einen der Haufen. Shan musterte die wehenden Fahnen und schämte sich, dass er beim ersten Mal nicht auf sie geachtet hatte und dass ihm auch sonst nicht aufgefallen war, welche Gewissensnöte Jamyang plagten. Er streckte die Hand aus und berührte eine der Fahnen. »Ich habe ein größeres Exemplar hiervon schon mal gesehen. Jamyang hat es bei seinem Altar aufbewahrt.«
Lokesh nahm die Fahne genauer in Augenschein. »Es gibt Götter, denen man einen Diebstahl, eine Lüge oder einen Frevel gesteht«, sagte er bekümmert. »Aber dieser hier …« Er blickte erschüttert zu Shan auf. »Dieser hier ist für Morde zuständig.«
Nach einem langen Moment ließ der alte Tibeter sich mit übergeschlagenen Beinen im Zentrum des durch die Steinhaufendefinierten Quadrats nieder, als wolle er das Zwiegespräch fortsetzen, das Jamyang mit Yangon, dem heiligen Berg, begonnen hatte. Shan wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihn davon abbringen zu wollen. Er drehte sich um und kehrte zu Jamyangs Schrein zurück.
Er war sich nicht sicher, weshalb der Schrein ihn anzog oder wieso er das Bedürfnis verspürte, nach seiner Ankunft ein weiteres Mal die Opfergaben zu reinigen. Irgendwann ertappte er sich dabei, dass er dastand und die herausgemeißelten Gottheiten anstarrte. »Es tut mir leid«, sagte er. Die Worte klangen wie ein Schluchzen. Shan hatte mehr als je zuvor das Gefühl, er habe Jamyang im Stich gelassen und die Tibeter enttäuscht. Man würde die Morde dazu benutzen, das Tal zu zerstören und es seiner Substanz zu berauben, die es für die Einheimischen so wichtig machte. Er blickte den Hang hinab. Ein Teil von ihm schien immer noch nach Jamyangs Geist zu suchen. Er wusste zwar weiterhin nicht genau, wer Jamyang war, aber der Lama hatte während seiner letzten Tage große Qualen gelitten. Falls Shan es doch nur gesehen hätte, wäre es ihm vielleicht gelungen, mit dem Lama zu sprechen und ihm dabei zu helfen, einen anderen Weg als den Tag des Todes zu finden.
Er säuberte die letzten Opfergaben, vergewisserte sich, dass Yuans Ahnentafel noch immer in der kleinen Höhle lag, und stieg dann zu einer grasbewachsenen Stelle oberhalb des Schreins empor, von der aus er den heiligen Berg sehen und den Wind seinen Schmerz verwehen lassen
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