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Der Tierarzt kommt

Der Tierarzt kommt

Titel: Der Tierarzt kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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entfernte sich im Laufschritt, und ich dachte wieder einmal, daß es in Englands Adel bestimmt nicht viele Männer seinesgleichen gab.
    Wäre ich ein Marquis gewesen, so hätte ich jetzt vermutlich noch im Bett gelegen – allenfalls hätte ich einen Blick durch die Vorhänge geworfen, um nach dem Wetter zu sehen. Aber Lord Hulton arbeitete von früh bis spät genauso hart wie seine Leute. Eines Morgens hatte ich ihn bei einem äußerst mondänen Zeitvertreib überrascht: er stand auf einem riesigen, dampfenden Dunghaufen und gabelte eifrig den Mist in eine Schubkarre. Und er trug zerlumpte Sachen. Er hatte vermutlich auch standesgemäße Anzüge, aber gesehen habe ich sie nie. Selbst sein Tabak war von der Sorte, die auch die Farmer und Arbeiter rauchten.
    Donnernde Hufe kamen heran, wilde Schreie ertönten: Hultons Herde jagte auf mich zu und drängte sich stampfend am Koppelzaun.
    Der Marquis bog im Galopp in den Stallhof ein.
    »Los, Charlie!« rief er. »Laß die erste in den Pferch!«
    Er schaute voller Spannung zu, als die Männer das Koppelgatter aufmachten. Und er brauchte nicht lange zu warten. Ein zottiges rotes Ungeheuer schoß durch die Bresche in den Pferch und raste mit einer Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern wieder hinaus, Teile des Werkes Seiner Lordschaft wie im Triumph am Hals und auf den Hörnern. Die Herde folgte ihm auf dem Fuß.
    »Haltet sie! Haltet sie!« schrie der kleine Lord, aber vergeblich. Wie eine Sturzflut wogten die roten, haarigen Leiber durch die Lücke, und eh man sich’s versah, trampelten sie in wilder Flucht hügelwärts. Die Männer stürzten hinterdrein, und einige Augenblicke später standen Lord Hulton und ich wieder genauso da wie zuvor.
    »Nicht gerade ein durchschlagender Erfolg, nicht wahr?« seufzte er.
    Aber er war hart im Nehmen. Kurz entschlossen griff er zum Hammer und nahm mit unverminderter Begeisterung die Arbeit wieder auf, und bis das Vieh zurückkehrte, war der Pferch repariert, und eine Eisenstange blockierte den Ausgang.
    Das schien die Lösung des Problems zu sein, denn als die erste Kuh die Eisenstange sah, blieb sie ruhig stehen, und ich konnte ihr ein Stück Fell vom Halse scheren. Lord Hulton war jetzt in Hochstimmung. Er hatte auf einer Öltonne Platz genommen und hielt mein Testbuch auf den Knien.
    »Ich notiere die Werte für Sie«, rief er mir zu. »Schießen Sie los, alter Junge!«
    Ich setzte die Schublehre an. »Acht Komma acht.« Er schrieb es auf, und die nächste Kuh war dran.
    »Acht Komma acht«, sagte ich, und er nickte.
    Die dritte Kuh: »Acht Komma acht.« Und die vierte: »Acht Komma acht.«
    Seine Lordschaft sah vom Buch auf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Können Sie es nicht ein bißchen abwechslungsreicher gestalten, mein lieber Herriot? Es fängt an, langweilig zu werden.«
    Alles verlief ruhig, bis wir an die Kuh kamen, die vorhin den Pferch umgerannt hatte. Sie hatte einen Kratzer am Hals.
    »Schauen Sie sich das an!« rief der Lord. »Heilt das denn wieder?«
    »Aber natürlich. Ganz harmlos. Nur oberflächlich.«
    »Na schön. Aber sollten wir nicht etwas drauftun? Etwas von der...?«
    Darauf hatte ich gewartet. Lord Hulton war ein begeisterter Anhänger der Propamidinsalbe von May and Baker’s. Aber leider konnte er sich das Wort »Propamidin« nicht merken. Tatsächlich konnte es niemand auf der ganzen Farm behalten außer Charlie, dem Vorarbeiter, und auch ihm war das schwierige Wort nur in einer eigenwilligen Version geläufig. Aber Lord Hulton ahnte das nicht.
    »Charlie!« brüllte er. »Wo bist du, Charlie?«
    Der Vorarbeiter eilte herbei und legte die Hand an die Mütze. »Hier, Eure Lordschaft.«
    »Charlie, dieses wunderbare Mittel, das wir von Mr. Herriot bekommen – du weißt schon, das für Wunden und so. Pro... Pero... wie zum Teufel heißt es noch?«
    Es war ein großer Augenblick für Charlie. »Propopamid, Eure Lordschaft.«
    Der Marquis war hochzufrieden. »Das ist es. Propopamid! Mir lag’s auf der Zunge, verdammt noch mal. Gut gemacht, Charlie!«
    Charlie senkte bescheiden den Kopf.
    Der ganze Test war viel reibungsloser als beim letztenmal verlaufen, und nach anderthalb Stunden waren wir fertig. Aber es war ein Unglück passiert. Als wir etwa halb durch waren, fiel eine Kuh tot um. Ein Anfall von Hypomagnesaemia, der bei Kühen, die gerade gekalbt haben, keine Seltenheit ist. Es war ein schneller und schmerzloser Kollaps, und ich hatte keine Möglichkeit, irgend etwas dagegen

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