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Der Tierarzt kommt

Der Tierarzt kommt

Titel: Der Tierarzt kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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mal. Er hat eine unglückliche Kindheit gehabt, soviel ich weiß. Vielleicht hat er deshalb so an seinem Hund gehangen. Er hat zu sehr an dem Tier gehangen.«
    »Ja... ja...«
    Sie nahm ihr Taschentuch und putzte sich die Nase. »Wie gesagt, der arme Kerl hat es schwer im Leben gehabt, aber er war tapfer.«
    Wir schienen alles gesagt zu haben. Ich fuhr aus der Stadt, und die ruhigen grünen Hügel standen ganz im Gegensatz zu dem inneren Sturm, der in mir tobte. Mit meiner Menschenkenntnis war es also nicht weit her. Mein Urteil hätte kaum verkehrter sein können, aber Paul hatte seine geheime innere Schlacht mit einem Mut gekämpft, der alle getäuscht hatte.
    Ich dachte über die Lehre nach, die er mir erteilt hatte, aber dazu kam noch etwas anderes, und das habe ich seitdem nie vergessen: Es gibt unzählige Menschen wie Paul, die nicht das sind, was sie scheinen.

18
     
    Ich war gerade dabei, am Ohr eines Hundes zu operieren. Tristan stand dabei, lässig mit dem Ellbogen auf den Tisch gelehnt, und hielt eine Narkosemaske über die Nase des Tiers, als Siegfried ins Zimmer trat.
    Er blickte kurz auf meinen Patienten. »Ach ja, das Hämatom, von dem Sie mir erzählt haben, James.« Dann sah er seinen Bruder an. »Mein Gott, du siehst ja heute morgen schrecklich aus! Wann bist du nach Hause gekommen?«
    Tristan hob das bleiche Gesicht. Seine Augen waren blutunterlaufen und die Lider geschwollen. »Ach, weiß ich nicht. Ziemlich spät, nehme ich an.«
    »Ziemlich spät! Ich war bei einer ferkelnden Sau und bin erst um vier Uhr morgens zurückgekommen, aber da warst du noch nicht zu Hause. Wo warst du denn überhaupt?«
    »Ich war beim Tanzfest der Lebensmittelhändler. War toll.«
    »Zweifellos!« schnaubte Siegfried. »Du läßt dir auch nichts entgehen, was? Schützenfest, Kirchweih, Taubenzüchterball, und jetzt die Lebensmittelhändler. Bei jedem Trinkgelage mußt du dabei sein.«
    Unter Beschuß kehrte Tristan stets seine Würde hervor.
    »Du solltest wissen«, sagte er, »daß viele Lebensmittelhändler Freunde von mir sind.«
    Sein Bruder wurde rot vor Zorn. »Das glaube ich sofort. Wahrscheinlich bist du ihr bester Kunde.«
    Tristan antwortete nicht und konzentrierte sich auf die Ätherflasche.
    »Und noch eins«, fuhr Siegfried fort. »Du treibst dich mit einem halben Dutzend verschiedener Weiber herum. Und dabei solltest du dich auf dein Examen vorbereiten.«
    »Das ist stark übertrieben.« Tristan war gekränkt. »Zugegeben, ich bin gern in weiblicher Gesellschaft – wie du ja übrigens auch.«
    Tristan hielt den Angriff für die beste Form der Verteidigung, und dieser Hieb saß, denn Siegfried wurde ständig von hübschen Mädchen belagert.
    Aber er ließ sich nicht einschüchtern. »Laß nur mich aus dem Spiel!« rief er. »Ich habe alle Examina hinter mir. Wir reden jetzt von dir! Hab ich dich nicht gestern nacht mit der Kellnerin vom Drovers’ gesehen? Du hast dich zwar schnell in einen Ladeneingang verdrückt, aber ich bin verdammt sicher, daß du es warst.«
    Tristan räusperte sich. »Das ist durchaus möglich. Lydia und ich sind gute Freunde – sie ist ein sehr nettes Mädchen.«
    »Ich habe nie das Gegenteil behauptet. Ich finde nur, du solltest abends bei deinen Büchern sitzen, anstatt dich zu betrinken und Mädchen nachzulaufen. Verstanden?«
    »Wie du willst.« Tristan nickte resigniert.
    Sowie sein Bruder draußen war, brach Tristans Fassung zusammen.
    »Jim, passen Sie bitte einen Augenblick auf die Narkose auf«, stöhnte er, ging zum Waschtisch, goß sich ein großes Glas kaltes Wasser ein und trank es in einem Zug leer. Dann tunkte er etwas Watte in das kalte Wasser und betupfte sich damit die Stirn.
    »Er ist in einem ungünstigen Moment gekommen. Gerade jetzt kann ich laute Stimmen und Vorwürfe nicht ertragen.« Er griff nach einem Aspirinröhrchen, nahm zwei heraus und schluckte sie mit einem weiteren großen Glas Wasser. Dann kam er an den Tisch zurück. »So, Jim. Es kann weitergehen.«
    Ich beugte mich über den eingeschläferten Hund, einen Scotchterrier namens Hamish. Seine Besitzerin, Mrs. Westerman, hatte ihn vor zwei Tagen hergebracht.
    Sie war eine pensionierte Lehrerin, und ich konnte mir gut vorstellen, daß in ihrer Klasse stets Ruhe und Ordnung herrschte. Ihre kalten blauen Augen, das stark hervortretende Kinn und die kräftigen Schultern vermochten auch mich einzuschüchtern.
    »Mr. Herriot«, hatte sie gesagt, »schauen Sie sich bitte meinen Hamish an. Ich hoffe, es

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