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Der Tierarzt kommt

Der Tierarzt kommt

Titel: Der Tierarzt kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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ein Gedanke kam. Tristan hatte mir bereits so viele Streiche gespielt, und obwohl wir gute Freunde waren, ließ er sich nie eine Gelegenheit entgehen, mich auf den Arm zu nehmen. Wäre er jetzt an meiner Stelle gewesen, so hätte er keine Gnade gekannt. So drückte ich ausdauernd auf die Klingel.
    Eine Weile lang hörte ich nichts, und ich stellte mir vor, wie der arme Kerl seinen ganzen Mut zusammennehmen mußte, um sich seinem Schicksal zu stellen. Endlich ging das Licht im Flur an, dann erschien eine Nase und danach ein ängstlich dreinblickendes Auge. Allmählich kam das ganze Gesicht zum Vorschein, und als Tristan mich sah, stieß er einen Wutschrei aus. Er hätte mich wahrscheinlich tätlich angegriffen, aber als er Hamish sah, war aller Ärger weg. Er griff das kleine Zotteltier und streichelte es.
    »Der gute kleine Hund, der liebe kleine Hund«, flötete er, als er in das Wohnzimmer trat. »Was für ein schöner, feiner Hund du bist.« Er legte ihn liebevoll in das Körbchen, und Hamish blickte sich nur einmal um, legte den Kopf zur Seite und schlief friedlich ein.
    Tristan ließ sich in den Sessel fallen und blickte mich mit glasigen Augen an.
    »Jim, wir sind gerettet«, flüsterte er. »Aber diesen Abend werde ich nie ganz überwinden. Ich bin meilenweit gelaufen und habe mir fast die Lunge ausgeschrien. Ich bin völlig kaputt.«
    Wie knapp wir der Katastrophe entkommen waren, wurde uns klar, als Mrs. Westerman zehn Minuten später erschien.
    »Oh, mein Schätzchen!« rief sie, als Hamish schwanzwedelnd auf sie zulief. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.«
    Sie warf einen forschenden Blick auf das Ohr. »Ja, es sieht viel besser aus ohne diese furchtbare Geschwulst. Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich danke Ihnen, Mr. Herriot, und auch Ihnen, junger Mann.«
    Tristan war aufgestanden und verneigte sich leicht, als ich Mrs. Westerman hinausführte.
    »Bringen Sie ihn in sechs Wochen wieder, dann ziehe ich die Fäden«, rief ich ihr nach, und dann stürzte ich ins Zimmer zurück. »Siegfried ist eben angekommen! Tu jetzt lieber so, als ob du gearbeitet hättest.«
    Tristan lief ans Bücherregal, nahm das Handbuch für Bakteriologie heraus, holte sich einen Notizblock und setzte sich an den Tisch. Als sein Bruder eintraf, war er in die Arbeit vertieft.
    Siegfried ging an das Feuer und rieb sich die Hände. Er sah rosig und gutgelaunt aus.
    »Habe eben mit Mrs. Westerman gesprochen«, sagte er. »Sie ist sehr zufrieden. Ihr habt gut gearbeitet.«
    »Danke«, sagte ich, aber Tristan war zu beschäftigt, um zu antworten. Er blätterte in seinem Buch und kritzelte Notizen auf den Block.
    Siegfried stellte sich hinter ihn und schaute in das aufgeschlagene Buch.
    »Ach ja, Clostridium Septikum«, murmelte er befriedigt. »Das ist ein gutes Thema. Kommt oft im Examen vor.« Er legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Freut mich, dich bei der Arbeit zu sehen. Du hast zuviel herumgebummelt, und das tut nicht gut. Höchste Zeit, daß du mal einen Abend bei deinen Büchern verbringst.«
    Er gähnte, streckte sich und ging zur Tür. »Ich gehe jetzt zu Bett. Bin ziemlich müde.« Mit der Hand auf der Klinke blieb er stehen. »Weißt du, Tristan, ich beneide dich – es gibt nichts Schöneres als einen ruhigen Abend zu Haus.«

19
     
    »Jim! Jim!«
    Ich ging hinaus und blickte über das Treppengeländer. »Was ist denn los, Tris?«
    »Ich möchte dich nicht stören, Jim, aber könntest du schnell mal herunterkommen?«
    Als ich unten ankam, führte Tristan mich in das Sprechzimmer.
    Ein kleines Mädchen stand am Tisch, auf dem eine schmutzige, zusammengerollte Decke lag.
    »Es ist ein Kater«, sagte Tristan. Er schlug die Decke zurück, und ich sah einen dicken Tigerkater. Das heißt, er wäre dick gewesen, wenn er etwas Fleisch auf den Knochen gehabt hätte, aber er war nur Haut und Knochen, und als ich mit der Hand über den reglosen Körper fuhr, fühlte ich nur die dünne Haut.
    Tristan räusperte sich. »Da ist noch etwas, Jim.«
    Ich sah ihn neugierig an. Dieses Mal schien er nicht zu Späßen aufgelegt zu sein. Er hob sanft ein Hinterbein des Katers an und rollte ihn auf den Rücken. Der Bauch war aufgeschlitzt, und die Eingeweide hingen in einem grotesken Wirrwarr heraus.
    »Ich hab ihn im Dunkeln sitzen sehen, da unten auf Browns Farm«, sagte das Mädchen. »Ich wollte ihn streicheln. Und da sah ich, daß er so schwer verletzt ist, und ich habe schnell von zu Haus eine Decke geholt und ihn zu

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