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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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fortbringe. Wollen Sie das machen?«
    Sally nickte. »Woran erkenne ich sie?«
    »Ich habe ein Foto von ihr. Hier – «
    Er reichte ihr eine zerknitterte Fotografie und zündete ein Streichholz an, damit sie es sehen konnte. Das Bild zeigte eine junge Frau auf den Stufen eines Hauses, vermutlich irgendwo in Russland. Sie war ein dunkler Typ mit strengen Zügen, misstrauischer Miene und einem Kopftuch über dem Haar. Mit dem Besen, den sie in der Hand hielt, sah sie aus wie eine Magd. Dann erlosch das Zündholz.
    »Spricht sie Englisch?«, erkundigte sich Sally.
    »Kaum. Etwas Deutsch, nehme ich an. Zeigen Sie ihr, falls nötig, das Foto. Es wird nicht einfach werden. Sie müssen ihr Vertrauen gewinnen. Ich kann nicht dabei sein, ich habe an Bord etwas anderes zu erledigen. Aber Sie werden es schon schaffen.«
    Ich hoffe es, dachte Sally bei sich. Sie steckte sich die Fotografie in den Handschuh und setzte sich wieder neben Goldberg, während das Boot bis zur Mitte des Stroms hinausfuhr.
    Dann sah Sally den Dampfer. Mit schimmernden Lichtern an Bullaugen und Brücke lag er etwas abseits in einem Wald von Masten. Eine Flotte kleinerer Schiffe – Ruderboote wie ihres, zwei Barkassen und einige andere, die sie nur undeutlich wahrnahm – umschwärmte ihn wie Bienen den Honig. Beim Näherkommen sah sie, dass das Deck von dunkel gekleideten, in Gruppen zusammenhockenden Gestalten übersät war, von denen einige schon das schwankende Fallreep hinunterkletterten. Hände streckten sich ihnen entgegen, um ihnen in die wartenden Boote zu helfen oder ihre Bündel aufzufangen.
    Charlie hielt das Ruderboot auf der Höhe des Dampfers, aber mit einigem Abstand zu diesem. Erst jetzt merkte Sally, dass der Strom unter der hereinbrechenden Flut anstieg.
    Eines der Boote, das unter dem Gewicht seiner Ladung tief im Wasser lag, fuhr schlingernd davon und sogleich kam ein anderes angeschossen, um seinen Platz einzunehmen. Offenbar gab es keine Regel, die darüber entschied, wer als Nächstes an das Fallreep heranfahren durfte. Unter Schreien und Fluchen versuchte jeder die anderen auszustechen.
    Das Boot, das nun beidrehte, hatte zwei Männer an Bord, einen zum Rudern und einen zum Dolmetschen, wie Sally hörte. Er rief den an Deck Wartenden irgendetwas zu. Goldberg erklärte Sally, dass der Mann für insgesamt zehn Shilling das Übersetzen zum Pier Head, eine Droschkenfahrt zu einer sauberen jüdischen Pension und die Vermittlung einer Wohnung anbot. Sally blieb die Luft weg, denn die gesamte Überfahrt von Rotterdam nach London kostete nicht mehr als ein Pfund. Trotzdem beeilten sich die Leute, ans Fallreep zu kommen. Vielleicht wussten sie gar nicht, wie viel Geld zehn Shilling waren.
    »Ah«, machte Goldberg. »Wer kommt denn da?«
    Eine dampfbetriebene Barkasse fuhr mit Schwung heran, drängte sich an den Platz unter der Schiffstreppe und ließ die anderen, kleineren Boote im aufgewühlten Fahrwasser schaukeln. Ein dicker, rundgesichtiger Mann mit Zylinder und weitem Umhang trat aus der Kajüte und stieg mühsam das Fallreep hinauf, gefolgt von einem schlankeren Mann mit Melone und Aktenkoffer.
    »Wer ist das?«, fragte Sally.
    »Das ist der berühmt-berüchtigte Arnold Fox. Sein Name ist Ihnen sicher aus der Zeitung bekannt. Ein Antisemit ersten Ranges – er macht viel Lärm, um das Parlament dazu zu bringen, die Einwanderung der Juden zu stoppen. So, Charlie, jetzt sind wir an der Reihe. Miss Lockhart, sind Sie bereit?«
    Sally nickte. Scheinbar mühelos drehte der alte Mann das Boot bei und manövrierte es zwischen das Heck der Barkasse und den Bug des nächsten Kahns.
    Kaum waren sie längsseits des Schiffes, ergriff Goldberg das Fallreep und hielt es fest, damit Sally aussteigen und die schwankenden Sprossen hinaufklettern konnte. Sie spürte die Blicke von oben, das Geschiebe und Gedränge, die Boote, die sich in der Dunkelheit bewegten, aber sie spürte auch Goldbergs Nähe. Für einen Augenblick lag seine Hand auf ihrer. Sie wandte sich um, sah ihn an und kletterte dann weiter.
    Oben angekommen, empfing sie der grelle Schein der Kerosinlampen. Goldberg neigte sich zu ihr und sprach mit leiser Stimme: »Sobald Sie sie sehen, gehen Sie auf sie zu. Es sind noch andere da, die das Gleiche vorhaben. Sehen Sie die Frau dort drüben? Ich kenne die alte Hexe, Mrs Paton heißt sie, eine Bordellwirtin. Schauen Sie, was sie macht.«
    Er deutete auf eine übertrieben geschminkte Frau in einem teuer aussehenden Pelzmantel. Sie mochte

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