Der Tiger im Brunnen
um die fünfzig sein, hatte einen schmalen Mund und Augen, kalt wie Eis. Gerade hatte sie sich an ein hübsches dunkeläugiges Mädchen herangemacht. Immer wieder strich sie ihr über den Mantelaufschlag. Das Mädchen hielt ein zusammengeknotetes Bündel in der Hand und lauschte höflich und hilflos zugleich der schmeichlerischen Rede der Frau. Deren beringte Hand fuhr nun zur Wange des Mädchens hinauf und streichelte sie. Das Mädchen sagte etwas, worauf die Frau zu einem Mann an der Reling hinüberschaute und nickte. Dann folgte das Mädchen beiden zur Treppe.
Sally wollte ihr schon nachstürzen und sie zurückholen, spürte aber Goldbergs Hand auf ihrem Arm.
»Wir gehen an die Wurzeln, nicht an die Blätter. Wollen Sie mehr sehen? Achten Sie auf den Mann dort.«
Er machte sie auf einen anderen Passagier aufmerksam, einen großen Mann mit Pelzhut. Sally konnte beobachten, wie er wie ein Hütehund über die Schar der Wartenden wachte. Der Kampf um Plätze, das Gedränge an der Reling, das ganze Durcheinander war keineswegs zufällig, denn er sonderte Passagiere aus, die hinunterdurften, und hielt andere zurück, je nachdem, welches Boot unten gerade wartete. Er machte das so geschickt, dass es aussah, als ginge es ihm nur um eine möglichst flüssige Abfertigung.
»Wer ist das?«, fragte Sally.
»Einer von den Werbern. Schauen Sie zu den Bootsleuten hinunter. Manche gehören zur Organisation, andere nicht. Sie haben eine Parole, ein geheimes Signal, an dem sie sich erkennen.«
Angestrengt schauten sie über die Reling, doch in der Dunkelheit und den raschen Manövern der schreienden Bootsleute war schwerlich ein Signal auszumachen.
»Welche Passagiere wählt er denn aus?«, fragte Sally.
»Die Vermögenderen. Das heißt all jene, die noch ein paar Rubel in der Tasche haben. Alle anderen lässt er links liegen. Das muss man sich mal vorstellen: Diese Menschen sind den ganzen langen Weg von Russland bis hierher Schmarotzern ausgesetzt gewesen. Was sollten sie da noch an Geld übrig haben? Aber Sie müssen jetzt nach Rebekka Meyer Ausschau halten. Ich verlasse Sie für eine Weile, komme dann aber wieder zu Ihnen zurück. Viel Glück.«
Sie nickte. Er verschwand in der Menge und Sally versuchte sich zurechtzufinden. Es gab so viel zu sehen.
Bündel, wohin sie schaute – Säcke aus grobem Segeltuch, die oben verknotet waren, kleine, sorgfältig in Baumwollstoff eingewickelte Pakete, zusammengerollte Matratzen und Daunendecken, die zwischen den Stricken, mit denen sie zusammengezurrt waren, dicke Wülste aufwarfen; Hüte: keine Melonen oder Zylinder – bis auf den von Arnold Fox, dem Antisemiten –, keine Schildmützen aus Tweed, sondern russische Mützen mit Lederschirm, mottenzerfressene Pelzmützen, eine einzige aus edlem Astrakan; und Tücher, alle Frauen trugen Tücher auf dem Kopf. Kinder – bleiche, hohläugige Gesichter, krank von der Überfahrt oder apathisch vom langen Hungern; Männer und Frauen – fremdländische Gesichter, die Männer bärtig, die Frauen breitwangig und dunkeläugig.
Und der Geruch. Schmutzige Kleidung, ungewaschene Körper, dreckige Stiefel; Duft von gebratenem Fisch; der Geruch von Krankenlagern; spürbar die Armut der Menschen und die Anstrengungen einer langen, beschwerlichen Reise.
Sally gelangte zu einem hell erleuchteten Gang, der ins Innere des Dampfers führte. Ein graubärtiger Mann in Uniform stand vor dem Gang und versperrte Mr Arnold Fox und seinem mit Bleistift und Notizbuch bewaffneten Adlatus den Weg.
»Kapitän van Houten, ich bestehe darauf, dass Sie meine Frage beantworten«, ließ sich die hohe, tremolierende Stimme von Arnold Fox vernehmen. »Ich führe eine Untersuchung im Auftrag des englischen Parlaments durch und verlange eine Antwort. War der Zollbeamte an Bord oder nicht?«
»Selbstverständlich«, erwiderte der Kapitän ungehalten. »Er ist wie immer in Gravesend an Bord gekommen.«
»Und hat er die Passagiere selber nachgezählt oder hat er einfach nur Ihre Angaben übernommen?«
»Wollen Sie damit sagen, dass meine Zahlen nicht stimmen? Glauben Sie, ich könnte nicht zählen?«
»Ich muss es wissen, Kapitän van Houten. Welche Zahl haben Sie ihm im Hinblick auf die an Bord befindlichen Ausländer genannt?«
»Dreiundsechzig. Und das entspricht den Tatsachen.«
»Und hat er sie überprüft?«
»Ob er nachgezählt hat, weiß ich nicht. Das ist schließlich seine Sache. Warum fragen Sie nicht einfach ihn? Warum behelligen Sie mich
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