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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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bestürzt, dass sie reglos dastand. Rebekka holte ein Taschentuch hervor und wischte Sallys Ärmel sauber. Sie war jünger, als Sally erwartet hatte: kaum älter als achtzehn. Doch sie musste Schlimmes erlebt haben, denn ihre Augen waren schmerzerfüllt.
    »Ich gehe mit Ihnen?«, fragte sie auf Deutsch.
    »Ja. Mr Goldberg ist hier. Wir gehen mit ihm zusammen.«
    Sally schaute sich um, konnte ihn aber nicht sehen. Nur einen Schritt neben ihr stand Mr Arnold Fox, der mit seiner Untersuchung für heute Abend fertig war, und rief etwas zu seinem Bootsmann hinunter. Dann legte er sorgfältig die Schöße seines Gehrocks zurecht, ehe er sich anschickte, die Treppe hinunterzugehen. Sein Adlatus legte die Unterlagen in seinen Aktenkoffer und folgte ihm demütig.
    Sally kam ein Gedanke. Konnte sie es tun, ohne bemerkt zu werden?
    Sie zwängte sich durch die Menge nach vorn und schlug im allgemeinen Gedränge dem Adlatus, der eben im Begriff war, die Leiter zu besteigen, den Aktenkoffer aus der Hand. Vor Entsetzen aufschreiend, versuchte dieser das Unglück zu verhindern, doch es war zu spät. Der Koffer stieß gegen die Reling und sprang auf, Bündel von Papieren trudelten durch die Dunkelheit und landeten zwischen den Booten auf den schwarzen Wellen, wo sie schon bald nicht mehr zu sehen waren. Sally genoss den Schrecken des Gehilfen fast so sehr wie das wutverzerrte Gesicht von Arnold Fox. Rebekka beobachtete das alles mit einem erstaunten Lächeln auf den Lippen.
    »Ein Feind«, sagte Sally.
    »Aha.«
    »Bravo«, ertönte plötzlich Goldbergs Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um. Goldberg sagte etwas auf Russisch zu Rebekka, die scheu antwortete.
    »Gehen wir«, sagte er und winkte Charlie. Sally sah, wie das Ruderboot zwischen den anderen Schiffen hindurchglitt und die Schiffstreppe erreichte. Sie stiegen hinab, nahmen im Boot Platz und ließen sich von Charlies gleichmäßigem Ruderschlag über das schwarze Wasser zurück ans Ufer bringen.
     
    Keine Stunde später saßen sie in einem Haus in Spitalfields und tranken Tee. Sie waren daheim bei Morris Katz. Seine Frau und seine Tochter, eine junge Frau in Rebekkas Alter, hatten Rebekka überschwänglich auf Jiddisch begrüßt und sie dann nach nebenan gebracht, wo sie sich frisch machen und saubere Kleidung anziehen konnte. Unterdessen unterhielten sich Goldberg und Mr Katz in herzlichem Ton. Sally saß dabei und spürte die Gastfreundschaft und die Fürsorglichkeit, die in diesem Haus herrschte. War es die sprichwörtliche jüdische Geselligkeit? Was es auch sein mochte, sie fragte sich, wie sie hier hineinpasste. Nicht, dass sie sich ausgeschlossen gefühlt hätte, aber es war eine Welt, die ihr bisher fremd war.
    Die Tür ging auf und Rebekka trat ein. Sie sah entspannter aus, zugleich aber auch müder. Sie lächelte Sally zu und legte ihre Hände ineinander.
    »Ich muss wieder gehen«, sagte Goldberg. »Morris, Miss Lockhart wird bei euch bleiben und sich mit Rebekka unterhalten.«
    Er nickte Sally zu, ehe er fortging. Einmal mehr war sie erstaunt über sein brüskes Verhalten, über den raschen Wechsel von Herzlichkeit und Sachlichkeit, Mitgefühl und Unbeugsamkeit. Sie fühlte sich zurückgesetzt, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
    Rebekka setzte sich zu Sally an den Tisch. Auf den ersten Blick wirkte sie verschlossen, ernst und ein wenig dumpf. Doch dann belebten sich ihre Gesichtszüge, ließen Geist und Gefühl erahnen, bis sie wieder in Apathie versank.
    Wenn sie auflebte, war sie beinahe schön, andernfalls hatte sie das Aussehen irgendeines jüdischen Mädchens vom Lande, daran gewöhnt, sich scheu und demütig im Hintergrund zu halten. Doch ob sie nun aus sich herausging oder nicht, immer lagen Schatten in ihren Augen.
    In einer Mischung aus Russisch und Jiddisch, was Morris Katz übersetzte, und Deutsch, was Sally verstand, erzählte Rebekka ihnen ihre Geschichte.
    Sie stammte aus einem Schtetl, wie die bitterarmen jüdischen Gemeinden in den russischen Provinzen hießen, und war die Tochter eines Milchmanns. Nachdem ihre Familie Opfer eines jener mörderischen Pogrome geworden war, die damals in immer neuen Wellen über das Land hereinbrachen, ging sie nach Moskau und nahm eine Arbeit als Dienstmädchen im Haus eines vermögenden jüdischen Kaufmanns an. Rebekka wuchs heran, lernte lesen und schreiben und zeigte, dass sie einen wachen Verstand besaß. Sie erregte die Aufmerksamkeit des Kaufmanns, der nach bescheidenen Anfängen in der Provinz mit

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