Der Tiger im Brunnen
damit?«
»Sie können sicher sein, dass ich ihn fragen werde«, fauchte Fox. »Und jetzt würde ich gern Ihre offiziellen Zahlen sehen.«
»Dazu sind Sie nicht berechtigt. Ich gebe die Unterlagen bei der Einwanderungsbehörde ab. Wenn Sie sie unbedingt sehen wollen, fragen Sie dort nach.«
»Kapitän, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es sich hier um einen offiziellen Parlamentsbericht handelt – «
»Sind Sie Mitglied der Regierung?«
»Nein, aber – «
»Sind Sie wenigstens Parlamentsabgeordneter?«
»Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie jetzt danach fragen …«
»Sie verschwenden Ihre Zeit! Da könnte ja jeder kommen und behaupten, eine offizielle Untersuchung durchzuführen. Treiben Sie Ihre Spielchen mit jemand anderem.«
»Haben Sie denn gar kein Verständnis für die Not dieser unglücklichen Menschen?«
Der Kapitän schnaubte nur verächtlich und wandte sich ab. Wenig beeindruckt von diesem Misserfolg, drehte sich Arnold Fox um und rief über die laute, wimmelnde Menge hinweg: »Spricht hier irgendjemand Englisch? Jemand – an Bord – Englisch?«
Auf der Suche nach einem Dolmetscher drängte er sich, die Nase rümpfend, durch die Menge.
Sally ging ebenfalls weiter und schaute noch einmal rasch auf die Fotografie, um sich Rebekkas Aussehen einzuprägen. Das Bild war nicht groß und das Mädchen hatte wegen des Sonnenlichts das Gesicht verzogen. Außerdem ähnelte sie vom Typ und von der Kleidung her so vielen anderen Mädchen und Frauen hier an Deck. Es würde nicht leicht sein, sie zu erkennen.
Sie bewegte sich durch das Chaos an Deck, möglichst ohne auf die starrenden Blicke zu achten, die ihr begegneten. Jede allein reisende junge Frau sah sie sich genau an. Mehr als einmal glaubte sie, Rebekka Meyer gefunden zu haben, bis die Betreffende dann ein neben ihr sitzendes Kind auf den Arm nahm oder sich vertraulich an den Mann hinter sich wandte, Zeichen genug, dass sie zu einer Familie gehörte.
Sally war schon über das ganze Deck bis zum Bug gelaufen, war über Segeltuchbündel, Matratzen und aus dem Leim gegangene Kisten aller Art geklettert. Nun drehte sie sich um. Goldberg war nirgends zu sehen, aber der Mann mit dem Pelzhut schaltete und waltete ganz nach seinem Belieben: Er gab den Seeleuten in den Booten Zeichen und bestimmte, wer in die Warteschlange vor dem Fallreep kam. Nach einer Minute genauen Beobachtens hatte Sally herausgefunden, wie er es machte: Für eine bestimmte Art Passagier zeigte er den Männern im Boot vier Finger, für eine andere einen Finger. Doch nach welchen Merkmalen er die Leute sortierte, konnte sie nicht erkennen. Arnold Fox, dessen schrille Stimme aus der Menge heraus deutlich zu vernehmen war, fragte neben ihr jemanden aus, während sein tintenklecksender Gehilfe alles in ein Notizbuch schrieb. Etwas weiter entfernt redete Bordellbesitzerin Paton in den süßesten Tönen auf eine junge Frau im dunklen Schal ein, wobei sie, wie Sally sehen konnte, die Figur des Opfers genau taxierte.
Aber war das nicht Rebekka Meyer?
Sally schaute noch einmal auf die Fotografie: Es konnte sein. Es konnte sogar gut sein. Aber sie war zu weit entfernt, um sich sicher zu sein, deshalb versuchte Sally rasch, näher an sie heranzukommen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Mrs Patons Komplize zur Treppe hinüberging, wo der Mann mit dem Pelzhut stand. Die beiden wechselten ein paar Worte miteinander, vielleicht hatte der Pelzhut auch bei diesem Geschäft Anrecht auf einen Anteil.
Sally kam bis auf drei, vier Schritte an Mrs Paton und die junge Frau heran, dann blieb sie stehen. Es war schwer zu sagen. Mrs Paton sprach mit betörender Stimme auf die junge Frau ein, die wie abwesend auf die Planken des Schiffsdecks starrte. Aber als Sally sie genauer betrachtete, blickte sie auf und sah sich verzweifelt um, so als suche sie nach einer Möglichkeit, sich Mrs Patons Zugriff zu entziehen. Nun hatte Sally keinen Zweifel mehr.
Sie eilte vorwärts.
»Rebekka!«, rief sie, und bevor die andere irgendetwas sagen konnte, gab sie ihr einen Kuss und flüsterte ihr auf Deutsch zu: »Ich bin deine Schwester.«
Rebekkas Hand fand die ihre und aus ihren Augen sprach stummes Einverständnis. Sally drehte sich zu Mrs Paton.
»Meine Schwester kommt mit mir«, sagte sie knapp.
Die alte Frau schaute sie hasserfüllt an, schürzte den Mund und spie Sally auf den Ärmel. Mit einem Schulterzucken zu ihrem Komplizen an der Treppe wandte sie sich ab und ging weiter.
Sally war so
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