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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Hilfe von Bestechung in Moskau zu Reichtum gekommen war. Das Interesse ihres Brötchengebers führte schließlich dazu, dass Rebekka ein Kind von ihm erwartete. Von da an war sie für ihn nicht mehr attraktiv und wurde entlassen. Sie geriet in Studenten- und Künstlerkreise und schlug sich mit Modellstehen durch. Nach der Geburt ihres Kindes lebte sie kurze Zeit mit einem Studenten namens Semjonow zusammen, einem Sozialisten, der schon bald nach Sibirien verbannt wurde. Kurz darauf starb das Kind. Während des Zusammenlebens mit Semjonow hatte sie sich mit seinen politischen Ideen auseinandergesetzt. Sie hatte alles gelesen, was ihr unter die Augen kam, darunter auch Goldbergs Artikel, die in mehreren verbotenen Zeitungen erschienen waren.
    Und wie auf viele andere, die sich mit dem Gedanken trugen, das Land zu verlassen, war auch auf sie der Schatten des Zaddik gefallen. In den abergläubischen Gemeinden des Schtetls gingen die abenteuerlichsten Gerüchte um: Der Zaddik sei kein Mensch, sondern ein Golem, ein künstliches Wesen, dem ein vom Glauben abgefallener Rabbi Leben eingehaucht habe; er habe einen bösen Geist zum Diener, der alles tue, was er ihm befehle; seine Schergen lockten junge Mädchen in sein Haus, in dem er kannibalische Riten abhalte, um sich ihre Jugend und Kraft einzuverleiben …
    Sally erinnerte sich daran, was Goldberg über das Mädchen in Amsterdam berichtet hatte. Vor dem Hintergrund solcher Ereignisse war es verständlich, dass die schlimmsten Schauergeschichten über ihn kursierten.
    Je länger Rebekka erzählte, desto mehr Respekt bekam Sally vor diesem stillen, unscheinbaren Mädchen. Rebekka hatte nämlich die Moskauer Adresse des Zaddik herausbekommen und Arbeit im Nachbarhaus angenommen.
    »Ich wollte das Ganze aus der Nähe sehen und mir selbst einen Eindruck verschaffen. Auf die abergläubischen Geschichten von Dibbuks und Golems habe ich nichts gegeben. Ich wollte einfach herausfinden, um was es ging, und dann vielleicht etwas dagegen unternehmen. So freundete ich mich mit einem der Dienstmädchen an und fand heraus, dass der Zaddik in ganz Europa Häuser besitzt, sich aber die meiste Zeit in Amsterdam aufhält. Er spricht mehrere Sprachen, aber Holländisch scheint seine Muttersprache zu sein.
    Ich habe ihn zweimal kommen und gehen sehen. Er reist immer bei Nacht. Ein riesiger, fettleibiger Mann, aber an den Rollstuhl gefesselt. Er kann sprechen und den Kopf bewegen, aber der übrige Körper ist gelähmt. Deswegen braucht er diesen Affen, der ihm überallhin folgt; er soll sogar in seinem Bett schlafen. Dort ist eine elektrische Klingel installiert, mit deren Hilfe der Affe die Dienerschaft rufen kann.
    Außerdem hat der Zaddik einen Leibdiener namens Michelet, der alles für ihn verrichtet, was der Affe nicht tun kann, ihn waschen, ankleiden und so weiter. Ein widerlicher Kerl. Weil er dem Zaddik so nahe ist, hat er Macht über die übrige Dienerschaft und nutzt das aus, vor allem gegenüber Frauen.
    Das hat mir alles das Dienstmädchen erzählt. Und sie hat mir auch von den Pfeifen berichtet.«
    »Von den Pfeifen?«, fragte Sally verwundert.
    Morris Katz nickte. »Ich habe den Klang dieser Pfeifen selbst gehört. In Kiew und Berditschew und in anderen Städten wurden die Aufrührer, die die jüdischen Läden und Häuser plünderten, mit Hilfe solcher Pfeifen gesteuert. Auf ein bestimmtes Signal hin verwandelt sich eine scheinbar friedliche Menge in einen wütenden Mob. Sobald das Signal erneut ertönt, endet der Spuk so rasch, wie er begonnen hat. Wenn man erst einmal weiß, was dieser Pfiff zu bedeuten hat, kann einen das blanke Entsetzen packen, wenn man ihn hört. Und der Zaddik hat also etwas damit zu tun?«
    »Ja«, sagte Rebekka. »Er hat einmal seinem Sekretär einen Brief diktiert, der für seinen Agenten in Weißrussland bestimmt war. Darin wurde das ganze System dargelegt. Er diktierte in Deutsch und der Sekretär übersetzte es anschließend. Der Zaddik kann kein Russisch, und da er dem Sekretär nicht vertraute, ließ er jemanden kommen, der ihm den Brief zurückübersetzte. Das Dienstmädchen hat mitgehört und anschließend den Brief gestohlen. Sie hat ihn mir gegeben, ich habe ihn bei mir.«
    Katz lächelte wie ein Mann, der stolz auf die Leistung eines Gefährten ist. Sally hoffte, auch einmal etwas zu vollbringen, was ihr ein ebensolch anerkennendes Lächeln einbringen würde. Doch Rebekka schlug die Augen nieder, als würde sie sich schämen, und fuhr fort:

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